Teilhabe am Berliner Kulturbetrieb - "Man kann hier ganz klar von sozialer Ungleichheit sprechen"
Wer in Berlin lebt, zahlt rechnerisch 43 Euro im Jahr allein für die Förderung der Oper. Doch weniger als drei von zehn Berlinerinnen und Berlinern gehen auch hin. Damit sich daran etwas ändert, lässt Berlin das Publikum systematisch erforschen. Von Lukas Haas und Marie Kaiser
Gesine Karls war noch nie in der Oper. Dabei hört die 59-jährige Berliner Erzieherin gerne klassische Musik. "Aber wenn ich mir im Fernsehen Bilder angeguckt habe, wo die Leute in die Oper gehen, habe ich mir gedacht, es ist nicht meine Welt", sagt sie. Doch nun will sie über ihren Schatten springen: "Die Walküre", fünf Stunden Wagner in der Staatsoper Unter den Linden stehen auf ihrem Programm.
160 Millionen Euro allein für die Opern und das Staatsballett
Mit Ihrer grundlegenden Skepsis der Oper gegenüber fällt Gesine Karls nicht aus der Reihe. Nur drei von zehn Berliner:innen gaben in einer Umfrage des Instituts für kulturelle Teilhabeforschung vor der Corona-Flaute an, innerhalb eines Jahres Opern, Ballett oder Tanztheater besucht zu haben. 2023 waren es sogar noch weniger. Ein niedriger Wert, angesichts des breiten Angebots an Kultur und Hochkultur.
590 Millionen Euro hat Berlin im vergangenen Jahr insgesamt für Kulturförderung ausgegeben. Etwa 160 Millionen Euro davon allein für die Opern und das Staatsballett. Das sind umgerechnet rund 43 Euro, die jeder Berliner und jede Berlinerin im Jahr dafür beisteuert. Doch profitieren vor allem die finanziell Bessergestellten davon - denn sie sind im klassischen Hochkulturpublikum überrepräsentiert.
Das Problem der niedrigen kulturellen Teilhabe ist auch der Berliner Politik bekannt. Schon vor Jahren hat der Senat das sozialpolitische Ziel ausgegeben, ein breiteres Publikum mit den öffentlich-geförderten Kulturangeboten anzusprechen. Die Senatsverwaltung hat deshalb 2008 das sogenannte Kulturmonitoring ins Leben gerufen, um Menschen zu befragen, warum sie der Kultur fernbleiben, und was sie vielleicht doch in die Oper oder ins Ballett locken könnte.
Kein anderes Bundesland vermisst das Publikum so systematisch
Das Kulturmonitoring in Berlin, das seit 2020 vom Institut für kulturelle Teilhabeforschung (IKTf) durchgeführt wird, ist deutschlandweit ein Vorreiterprojekt. Das IKTf befragt im Monat im Schnitt 6.000 Menschen bei Kulturveranstaltungen. Um jene zu erreichen, die der Kultur fernbleiben, werden alle zwei Jahre auch postalische Befragungen durchgeführt. So bekommt das Institut Informationen über die sozio-ökonomischen Hintergründe des Publikums, den Lebensstil und die Besuchsmotivation. Das Land Berlin übernimmt für die Kulturbetriebe die Kosten dafür und stellt ihnen die Ergebnisse zur Verfügung.
Kulturangebote richten sich an privilegierte Berliner:innen
Eines der weniger überraschenden, aber doch eindeutigen Ergebnisse: Der Kulturbetrieb hat ein Diversitätsproblem. Sein Berliner Publikum ist überdurchschnittlich hoch gebildet. Nur 15 Prozent des Berliner Kulturpublikums hatte 2023 kein Abitur oder keinen Hochschulabschluss. In den Opern sind es sogar nur 13 Prozent. Zum Vergleich: In der Gesamtbevölkerung haben etwa 64 Prozent dieses Bildungsniveau.
Außerdem erreichen Hochkulturangebote vor allem ältere und wohlhabende Menschen. So sind beispielsweise 60 Prozent der Opernbesucher:innen über 50 Jahre alt und 70 Prozent werden als sozial und finanziell gut ausgestattet gewertet.
Menschen mit Migrationshintergrund, die einen Wohnsitz in Deutschland haben, machen nur 16 Prozent des Kulturpublikums in Berlin aus. In der Berliner Gesamtbevölkerung liegt ihr Anteil hingegen bei etwa 40 Prozent.
"Man kann hier ganz klar von sozialer Ungleichheit sprechen"
Die Daten aus der Publikumsforschung haben schon dabei geholfen, sich für ein vielfältigeres Publikum zu öffnen, erklärt die Leiterin des Vertriebs der Staatsoper Julia Hanslmeier. Die Daten werden vor allem für das Marketing genutzt, um die Kundenansprache zu verfeinern. Seit 2019 habe der Anteil der Besucher:innen mit Migrationshintergrund zugenommen, sagt sie. "Da sind wir aktuell über 15 Prozent. Damit sind wir jetzt über dem Branchendurchschnitt." Laut Kulturmonitoring ein Anstieg um sechs Prozentpunkte binnen vier Jahren.
Insgesamt stagniert bei den Berliner Kultureinrichtungen jedoch die Diversität. Thomas Renz, Wissenschaftler am Institut für kulturelle Teilhabeforschung, ist für das Kulturmonitoring mitverantwortlich. "Wenn man sich anschaut, wer kommt und wer nicht kommt, dann kann man hier ganz klar von sozialer Ungleichheit sprechen." Besonders besorgt schaut das IKTf auf die "fortschreitenden Überalterung" beim klassischen Kulturpublikum. Diese werde zur Herausforderung, weil die ältesten Besuchergruppen irgendwann wegbrechen, aber momentan keine jüngeren nachrücken.
Nicht nur das Marketing, auch die Inhalte müssen sich ändern
Die geförderten Einrichtungen müssten mehr tun. Da reiche besseres Marketing nicht aus: “In der Oper, aber auch in anderen Kultureinrichtungen muss man wirklich an den Kern des Angebots. Das sind die künstlerischen Inhalte, aber auch die Formate. Gerade die Oper ist schon ein sehr starres Format”, erklärt Renz. Doch zum ganzen Bild gehört auch: Jeder Kulturbereich hat sein eigenes Publikum. Die Besucher:innen des Technikmuseums seien etwa deutlich diverser als in den Berliner Opern, sagt Renz. Insgesamt stehe der klassische Kulturbereich vor den größten Herausforderungen.
Nur wenig Entwicklung in den Daten zu erkennen
Die Opern, so wirkt es, haben das Problem erkannt. Sie machen viele Angebote, um das Publikum diverser zu machen, etwa Aktionen wie "Oper für alle" mit Aufführungen unter freiem Himmel, Sozialtickets ab drei Euro oder Kooperationen mit Schulen. Dennoch gelingt es den Opern nur selten, sich für ein breiteres Publikum zu öffnen. Im Gegenteil: Der Anteil der Menschen ohne Abitur in Kultureinrichtungen ist sogar leicht zurückgegangen zwischen 2019 und 2023. Auch ein Nachrücken eines jüngeren Publikums ist in den Daten nicht erkennbar.
Gesine Karls jedenfalls hat die Oper gepackt. Der Besuch war ein positives Erlebnis, aber manches stört sie doch: "Es ist mitten in der Woche, ab 16 Uhr. Das ist eigentlich kaum möglich, es sei denn man ist Rentner, Privatier oder muss sich nicht sonst großartig tagsüber beschäftigen", sagt sie. Trotzdem kann sich gut vorstellen, öfter zu kommen - wenn auch nicht unbedingt für Wagner.
Sendung: rbb24 Abendschau, 23.03.2024, 19:30 Uhr