Die Macher von Am Späti / An der Tanke - "Das wurde auch innerhalb der Redaktion stets kontrovers diskutiert"

Viele Menschen kommen in Berlin am Späti, in Brandenburg an der Tanke vorbei. Zwei rbb|24-Reporter haben sie dort gefragt, was sie bewegt. Dabei sind auch Gespräche entstanden, in denen Menschen streitbare Meinungen vertreten.
rbb: 2023 startete bei rbb24.de das Format "An der Tanke" in Brandenburg. Jonas Wintermantel und Anna Bordel waren die Reporter dieser Reihe. Ihr beiden,wie kam es zu dieser Idee?
Anna Bordel: Wir haben uns ein Jahr vor der Landtagswahl in Brandenburg in einer kleineren Redaktionsrunde zusammengesetzt und überlegt, dass wir wissen wollen, wie tickt Brandenburg? Wie ticken die Menschen, die dort leben? Was treibt die um? Wieso werden die Wahlergebnisse voraussichtlich so, wie sie werden? Deswegen haben wir überlegt, wie und wo kommen wir an die Menschen ran? Wo kommen verschiedene Menschen aus allen möglichen Gesellschaftsschichten vorbei, aber auch aus verschiedenen Altersklassen?
Deswegen sind wir auf die Tankstelle gekommen als ein Ort, wo Menschen, die in Brandenburg leben, vermutlich sehr oft vorbeikommen, weil die meisten auf ein Auto angewiesen sind und tanken müssen. Wie wir festgestellt haben, ist das auch aufgegangen.
Das Format wurde später auf Spätis in Berlin ausgeweitet. Sind das die kleinsten gemeinsamen Nenner der Gesellschaft, also die Tanke in Brandenburg und der Späti in Berlin?
Jonas Wintermantel: Kleinste gemeinsame Nenner würde ich nicht unbedingt sagen. Es sind halt die Orte, wo sehr unterschiedliche Personen vorbeikommen. In Berlin ist es tatsächlich noch ein bisschen vielfältiger - würde ich sagen - was die Lebensgeschichten angeht. Es ist aber auch sehr unterschiedlich, wer vorbeikommt.
Anna Bordel: Eine Tankstelle ist halt nicht zwangsläufig in ein Dorf eingebettet. Ein Späti aber ist in einen Kiez verankert. Dort versuchen wir Menschen anzusprechen, die auch in dem Kiez leben und den Späti regelmäßig nutzen. An der Tankstelle können das Menschen aus unterschiedlichen Dörfern oder Landkreisen sein - vielleicht sogar aus einer ganz anderen Stadt in Brandenburg. Und trotzdem kommen die da vorbei. An der Tankstelle ist es also weniger ortsgebunden.
Die Gemeinsamkeit ist ja im Prinzip, dass man die Leute in ihrem Alltag ein bisschen stört und abfängt. Trotzdem hat man das Gefühl, dass sie ziemlich redselig sind. Trügt das oder ist das tatsächlich so?
Jonas Wintermantel: Die Gespräche, die man lesen kann, sind natürlich nur die Leute, die Lust hatten mitzumachen. Wir standen auch beide lange Stunden an der Tanke und haben vergeblich Leute angesprochen. Manche sagen anfangs, dass sie zwei, drei Minuten Zeit haben, aber reden trotzdem 20 Minuten mit uns. Das hatte ich schon öfter, dass man Menschen ein bisschen anpiekst und dann fließt es auf einmal raus aus ihnen. Dabei hatte ich auch das Gefühl: okay, du wurdest vielleicht lange nicht mehr gefragt, wie es dir geht.
Anna Bordel: Die allermeisten Leute gehen vorbei und haben keine Zeit oder wollen auch einfach nicht mit uns sprechen. Ich erinnere mich, wie ich Jonas dann immer schreibe: 'Jonas, ich stehe hier schon so und so lange. Es ist kalt.'
Wie wählen Sie die Menschen aus, mit denen Sie sprechen wollen?
Anna Bordel: Sobald die Kennzeichen aus Brandenburg sind, spreche ich die Menschen an der Tankstelle auch an. Da ist es ganz egal, auf mehr achte ich da nicht. Und am Späti ist es ähnlich: Da greife ich mir jeden Menschen ab, der irgendwie ansprechbar ist. Ich weiß gar nicht, wie du das machst, Jonas.
Jonas Wintermantel: Ich versuche jede Schere im Kopf irgendwie wegzunehmen und einfach Leute anzusprechen. Auch die, die vielleicht den Anschein machen, dass sie nicht sprechen wollen. Aber gerade von denen hat man trotzdem interessante Geschichten gehört.
Anna Bordel: Minderjährige am Späti ausgenommen. Die trifft man natürlich an der Tankstelle eher weniger.
Jonas Wintermantel: Und vielleicht, wenn eine Mutter vier Kinder im Auto hat, sage ich auch, die hat wahrscheinlich Besseres zu tun.
Wenn Sie mal so ein bisschen aus dem Nähkästchen plaudern, was für Geschichten kommen aus den Leuten raus?
Jonas Wintermantel: Total unterschiedlich. Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Ich denke gerade an einen Speditionsunternehmer, der von Montag bis Sonntag arbeitet und darüber spricht, wie dadurch seine Beziehungen kaputt gegangen sind, seine Familie. Vor ein paar Tagen habe ich an der Tanke mit einer Hundephysiotherapeutin gesprochen. Sie hatte das schon an ihrem Auto draußen dran stehen. Dann haben wir fünf Minuten über Hunde gesprochen. Es kann wirklich alles dabei sein.
Oft findet man auch Verbindungen an verschiedenen Orten. Zum Beispiel war ich am Leopoldplatz am Späti, wo ich mit einem Menschen aus der Bürgerinitiative gesprochen habe, der Angst davor hat, dass das Fentanyl Berlin überschwemmen wird. Einen Tag später habe ich mit einem Fentanyl-Dealer am Späti gesprochen.
Also dasselbe Thema, aber eine andere Perspektive. Ich glaube, das hat Anna auch öfter mal erlebt.
Anna Bordel: Gespräche fangen oft nicht sofort mit ganz intimen oder innigen Geschichten an, sondern sind am Anfang oft einsilbig. Menschen sind erst mal misstrauisch: Was wollen die eigentlich hier von mir?
Ich erinnere mich an eine Supermarkt-Kassiererin an der Tankstelle in Brandenburg. Sie war erst sehr einsilbig und am Ende war sie den Tränen nahe. Sie erzählte, wie sie gerade unter den erhöhten Lebensmittelpreisen und ihrer Angst vor dem Krieg leidet. Das Gespräch kann sich, nicht immer, auch entwickeln.
Es kommen in den Gesprächsprotokollen auch kontroverse Themen, die zum Beispiel in rassistische Richtungen tendieren können, zur Sprache. Warum haben Sie sich bewusst dazu entschieden, das nicht einzuordnen, sondern diese Aussagen und Geschichten für sich so stehen zu lassen?
Anna Bordel: Das hat auch mit dem Ursprung des Formats zu tun. Wir wollten wissen, wie Brandenburg tickt und einen Raum für Meinungsvielfalt bieten. Wir fragen die Menschen als Privatpersonen dort nach ihrer sehr persönlichen Meinung und wir wollten uns nicht als Redakteure über sie stellen.
Es ging uns auch nicht um die Darstellung von Fakten. Wer eine Hintergrundanalyse zu einem bestimmten politischen Geschehen lesen will, muss sich anderswo informieren - das wird, glaube ich, auch aus der Aufmachung klar. Es ging darum, Raum für Meinungen und persönliche Erlebnisse zu schaffen.
Jonas Wintermantel: Themen wie Rassismus und menschenfeindliche Aussagen sind natürlich so ein Grenzfall, wo wir bei bestimmten Texten auch viel diskutiert haben. Zum Beispiel wurde in einem Gespräch, das wir am Ende nicht veröffentlicht haben, mehr oder weniger zur Vernichtung der Ukraine aufgerufen. Das überschreitet für uns eine Grenze. Das haben wir aber immer in Absprache mit der Redaktion gemacht. Oder ein anderes Beispiel, wo bestimmte Menschengruppen mit Tieren verglichen wurden, wo wir gesagt haben: Das überschreitet auch eine Grenze von, nennen wir es Volksverhetzung.
Aber grundsätzlich sind diese Meinungen da und viele Personen haben das Gefühl, dass das, was sie denken, in bestimmten Medien nicht vertreten wird, dass sie das da nicht lesen.
Aber natürlich sind diese Meinungen in der Welt. Alle benutzen Social Media und man muss nicht weit gehen, um genau diese Dinge zu hören. Deswegen dachten wir, das muss abgebildet werden.
Anna Bordel: Das wurde auch innerhalb der Redaktion stets kontrovers diskutiert. Wir haben auch von User:innen sehr kontroverses Feedback bekommen. Manche fanden es sehr gut, manche haben sich sehr daran gestört, dass wir auch meinetwegen rassistischen Äußerungen eine Plattform bieten.
Es gibt seit einigen Wochen eine neue Reihe von Gesprächsprotokollen von "An der Tanke" und "Am Späti". Was waren da so die Themen, nach denen Sie gefragt haben? Gab es irgendetwas Spezifisches, um das nochmal so ein bisschen weiterzuentwickeln?
Anna Bordel: Wir hatten uns am Anfang speziell politische Themen rausgesucht. Darauf haben wir jetzt verzichtet. Wir wollten eher persönliche Geschichten erfragen und mit den Menschen darüber ins Gespräch kommen. Sehr häufig sind daraus allerdings von selbst politische Gespräche geworden.
Jonas Wintermantel: Was man auch viel beobachtet, wenn man die Leute fragt, wie es ihnen persönlich geht, kommt ganz oft: 'Mir geht's super, mein Jahr war toll.' Wenn man im nächsten Schritt auf der Metaebene nachfragt, wie es denn politisch aussieht, dann geht's los. Die Leute sagen meist, es geht alles den Bach runter und uns geht es viel schlechter als früher.
Auch wenn man nicht danach fragt, war die Bundestagswahl ganz oft ein Thema. Auch die Entfremdung vom politischen System. Nennen wir es Politikverdrossenheit, aber auch Verschwörungserzählungen zu Wahlfälschungen.
Anna Bordel: Da ist nochmal ein Unterschied zwischen Späti und Tanke, finde ich. Das kann man tatsächlich so generalisieren, dass in Brandenburg sehr oft dieses Gefühl von 'die Politiker da oben', also von dieser Kluft zwischen den Menschen, die sich in Brandenburg auf dem Land sehr vergessen fühlen von den Politikern und denken, die haben ja alle keine Ahnung von unseren Problemen hier. Am Späti war das etwas weniger, fand ich.
Ist es für die Leute vielleicht ein glücklicher Umstand, dass mal jemand fragt, wie es ihnen geht?
Anna Bordel: Das wurde mir sehr oft gespiegelt. Viele Menschen haben kritisiert, es interessiere gar keinen, was wir zu sagen haben, was wir denken. Man darf ja gar nicht mehr seine eigene Meinung sagen. Und dass wir jetzt mal gekommen sind und gesagt haben, hier dürfen Sie sagen, was Sie meinen. Wir wollen es hören und Sie können hier alles mögliche ansprechen. Ich habe es schon so erlebt, dass viele es interessant fanden und dafür dankbar waren.
Vielen Dank für das Gespräch!
Das Interview mit Anna Bordel und Jonas Wintermantel führte Annette Kufner für rbb24 Inforadio.
Der Text ist eine redaktionell bearbeitete und gekürzte Fassung. Das Gespräch ist auch im Audio-Player nachhörbar.
Sendung: rbb24 Inforadio, 09.01.2025, 14:25 Uhr