Berlinale-Wettbewerb | "Sterben" von Matthias Glasner - Operationen am offenen Herzen
Zwölf Jahre nach "Gnade" kommt mit "Sterben" der neue Film von Matthias Glasner in den Wettbewerb der Berlinale. In drei Stunden, drei Teilen und drei Perspektiven breitet er eine komplizierte Familiengeschichte aus - intensiv, persönlich und doch universell. Von Anke Sterneborg
2012 war Matthias Glasner zuletzt im Wettbewerb der Berlinale vertreten, mit seinem wuchtigen Fahrerflucht-Drama "Gnade". Immer wieder geht er dahin wo es wehtut, wo die Abgründe der menschlichen Existenz lauern. In seinen Filmen erforschte er quasi parallel zum eigenen Leben und oft mit Jürgen Vogel als eine Art Alter Ego Themen wie Liebe, Männlichkeitsbilder und Familie.
In gewisser Weise sind das immer auch Operationen am offenen Herzen, weil er darin viel von sich selber preisgibt. Zwölf Jahre nach "Gnade" kommt jetzt sein neuer Film, der ganz sachlich "Sterben" betitelt ist und von dem er sagt, dass es sein bisher persönlichstes Werk ist.
Hommage an den Vater und Werben um die Liebe der Mutter
Die in den Sechzigerjahren geborene Generation muss sich derzeit verstärkt damit beschäftigen, dass ihre Eltern, wenn sie nicht schon gestorben sind, doch zunehmend abbauen, dement oder gebrechlich werden, sterben. Das gilt auch für den 1965 geborenen Regisseur Matthias Glasner. In den End-Credits von "Sterben" steht nach dem Schauspieler-Abspann exponiert "Hans-Uwe Bauer als mein Vater" - ein deutlicher Hinweis darauf, wie persönlich dieser Film wirklich ist. Im Tagesspiegel-Interview bekannte sich Glasner dazu, dass er mit "Sterben" noch immer versuche, die Liebe seiner verstorbenen Mutter zu gewinnen. Sein Film vermittelt eine ziemlich deutliche Ahnung von den Widerständen, die es da wohl gab.
Eine Art Miniserie mit drei Episoden aus drei Perspektiven
Inspiriert vom seriellen Erzählen wird in drei Stunden, drei Teilen und drei Perspektiven eine komplizierte Familiengeschichte ausgebreitet. Den Anfang machen die alten Eltern. Der Vater ist dement, irrt halb nackt und verwirrt draußen herum, und es wird klar, lange wird das so nicht mehr gehen, unbetreut zuhause. Die Mutter liegt unterdessen hilflos, desolat und beschmutzt im Nachthemd auf dem Boden. Diese Frau ist eine typische Corinna Harfouch-Rolle: mit einer abweisenden Härte, die im Laufe des Films langsam Risse bekommt, bis man sie vielleicht nicht unbedingt ins Herz schließt, aber doch ein bisschen besser versteht.
Unwirsch wehrt sie alle Zuwendungen ab, grau und fahl wirkt sie, verbittert und freudlos. Man spürt ihre Hilfsbedürftigkeit, wenn sie mit ihrem Sohn telefoniert, aber auch, dass sie sich lieber die Zunge abbeißen würde, als um etwas zu bitten. Ein unbefriedigendes Gespräch ist das mit dem Sohn, der als Dirigent in Berlin vielbeschäftigt ist, aber verspricht, in den nächsten Tagen vorbeizukommen. Mutter und Sohn in schwierigen Verhältnissen haben Lars Eidinger und Corinna Harfouch schon in Hans Christian Schmids "Was bleibt" gespielt.
Atemraubendes Schauspiel-Duett
Nach der ersten halben Stunde in dieser beklemmenden Situation, beginnt man sich ein bisschen zu fürchten, vor einem sich womöglich über drei Stunden hinziehenden Sterbeprozess. Doch dann gibt es eine Szene am Küchentisch, die einschlägt wie eine Bombe. Ein atemraubendes Schauspiel-Duett zwischen Corinna Harfouch und Lars Eidinger (als Alter Ego des Regisseurs), gerade weil sie ein Meisterstück in minutiösem Timing und fein kalibriertem Understatement ist.
Ausgerechnet am Tag der Beerdigung seines Vaters, konfrontiert die Mutter ihren Sohn schonungslos direkt mit ihrer eigenen Krebsdiagnose und hängt gleich anschließend noch eine ernüchternde Analyse ihrer lieblosen Indifferenz als Mutter dran. Zwischen der brutalen Härte der gesprochenen Worte und dem mimischen und gestischem Minimalismus in den Reaktionen tun sich augenblicklich die Abgründe auf, die in dieser Familie walten.
Irrlichterndes Schlingern zwischen emotionalen Extremen
Die dritte Perspektive gehört der Schwester, die nur einmal flüchtig aufgeflackert ist, in der ungeduldigen Abweisung, die sie sich am Telefon von ihrem Bruder einfängt, der ihre alkoholisierten Ausbrüche schon zu oft erlebt hat. Mit jeder Faser ihres Körpers, jedem Ton ihrer brüchigen Stimme, ihrem Nico-artigen Sprechgesang und dem Blitzen ihrer Augen verleiht Lilith Stangenberg ihr eine verzweifelte Intensität. Irrlichternd schlingert sie zwischen schmerzlicher Selbstzerstörung und fragiler Verletzlichkeit, zwischen nerviger Überspanntheit und berührender Durchlässigkeit und breitet auf diese Weise die verletzte Seele ihrer Figur auf der Leinwand aus. Ein wenig erinnert sie an die von Saoirse Ronan gespielte Trinkerin in dem Panorama-Film "The Outrun" von Nora Fingscheidt.
Familie und Künstlerexistenz auf dem Seziertisch
Prall gefüllt sind die drei Stunden des Films, mit zarten, aber auch mit brachialen Momenten, zum Teil auf einem schmalen Grat zu lächerlicher Absurdität, beispielsweise wenn Lilith Stangenberg als Zahnarzthelferin und Ronald Zehrfeld als Zahnarzt die Untiefen ihrer Beziehung gleich mehrfach über den Kopf eines Patienten hinweg austragen. Dann gibt es aber auch eine andere Szene, in der Lilith Stangenberg bei der Konzertpremiere ihres Filmbruders in einen hysterischen Hustenanfall ausbricht, in dem ihre geradezu physische Abwehr gegen ihn und sein Leben aus ihr hervorbricht.
Hochfliegendes Ego und niederschmetternde Selbstzweifel
Von der Kernfamilie wuchert der Film in die Enkelgeneration, in eine schwierige Patchwork-Situation, in der es auch um die Frage geht, wer größere Bedeutung hat, der biologische oder der soziale Vater. Aber nicht nur Familie kommt auf den Seziertisch, sondern auch der Beruf, die Unsicherheiten einer Künstlerexistenz, all die Widersprüche zwischen hochfliegendem Ego und niederschmetternden Selbstzweifeln. Im Film ist Glasners Alter Ego Tom auch Künstler, aber kein Filmregisseur, sondern Dirigent und gerade mitten in den Proben für die anstehende Premiere einer neuen Komposition seines engsten Freundes. Robert Gwisdek spielt ihn als stadtneurotisches Nervenbündel, mit einer tragischen Note: „Ich glaub, er will sich umbringen“ sagt Tom besorgt zu seiner Ex-Freundin, „schon wieder?“ antwortet die.
Das pralle Leben mit allen Tiefen und Höhen, mit Krankheit, Tod, Suff, Rausch und Ekstase, mit Melancholie und Depression hat Matthias Glasner in diesen Film gepackt. "Sterben" ist auch eine Art Résumé an diesem Punkt seines Lebens, mit allem, was einem nach dem Tod der Eltern und der Geburt der Kinder, auf dem Weg zum sechzigsten Geburtstag und mit den Unwägbarkeiten eines künstlerischen Berufes so durch den Kopf geht. Dass der Film zwar sehr persönlich, zugleich jedoch auch sehr universell ist, machte ihn zu einer besonders intensiven Erfahrung - für die Schauspieler, aber auch für das Publikum.
Sendung: rbb24 Inforadio, 19.02.2024, 08:54 Uhr