Tagebuch (25): Ukraine im Krieg - "Auf dem Gelände des Atomkraftwerks brannte es. Es war so gruselig"
Janas Familie arbeitet im größten Atomkraftwerk Europas. Als die Russen kommen, flüchten sogar Ukrainer hierher. Ein Atomkraftwerk ist schließlich sicher, erzählt sie Natalija Yefimkina in ihrem Kriegstagebuch. Oder?
Natalija Yefimkina: Als ich diesen Tagebucheintrag vorbereitete, war ich in Belarus. Die Oma meiner Kinder lebt hier und wir mussten sie besuchen, obwohl wir ein mulmiges Gefühl hatten. Es ist eigenartig in einem Land zu sein, das man schon so lange von außen misstrauisch beobachtet. Und dann ist man dort und alles scheint erst einmal wie die Jahre davor. Nichts deutet auf den Krieg hin. Die Menschen sprechen über nichts, was auch nur ansatzweise politisch sein könnte.
Ich frage den Taxifahrer, ob er bei den Demonstrationen 2020 Protestierende transportiert hat. Man rede hier nicht mehr über diese Zeit, antwortet er. Die Tochter seines Bekannten sei vor kurzem nachts abgeholt worden, weil sie einen kritischen Kommentar gepostet hatte. Ihnen war egal, dass sie noch ihr Kind stillte. Drei Jahre hat sie bekommen. Wo sie sitzt, sitzen nur politische Gefangene.
Eine KI erkennt mittlerweile alle Menschen, die bei den Demos der Opposition damals dabei waren. Sie bekommen eine Anklage, im besten Fall verlieren sie nur ihren Job. Es sind mittlerweile an die dreitausend Menschen. Die Hauptstadt Minsk wirkt seltsam leblos.
Die, die geblieben sind, machen irgendwie weiter. Die Galerie, die wir immer besucht haben und deren Besitzer anderthalb Jahre ohne Prozess im Gefängnis saß, ist jetzt ein schickes Café. Wie in Berlin Mitte. Die Leute in dem Café sind auch wie in Berlin, nur können sie nichts mehr sagen, nichts schreiben und schon gar nicht etwas tun.
Später auf dem Dorf. Wir grillten jeden Tag am offenen Feuer und redeten viel mit den einheimischen Omas. In das Dorf waren letztes Jahr zwei junge Leute gezogen, zwei Veganer. Sie waren damals auch bei uns zum Essen und brachten eine schöne, selbstgebackene Torte mit. Sie hatten sich damit einen Namen gemacht und online Patisserie-Workshops für Europäer angeboten. Außerdem sammelten sie mit süßen Bildern über Instagram Spendengelder für obdachlose Katzen. Beide sprachen Englisch und hatten zuvor in Warschau gelebt.
Diesmal hörten wir lauter komische Sachen über sie. Sie seien den Einheimischen gegenüber aggressiv und ließen niemanden auch nur in ihre Nähe. Bei einem Spaziergang begegneten wir ihnen zufällig, und wurden tatsächlich angeschrien: Was wir auf ihrem Weg zu suchen hätten. Es sei ein öffentlicher Weg, sagten wir, und überhaupt: Wir sind's doch!
Doch sie hörten nicht auf, also gingen wir. Ein paar Tage später wanderten wir am Fluss entlang. Diesmal gingen sie mit Stöcken auf uns los. Wir würden sie provozieren und sollten von hier verschwinden. Die Kinder bekamen Angst, also gingen wir. Wir sollten unseren Telegram-Account löschen, riefen sie uns noch hinterher. Für das Zusammenschlagen eines Menschen bekäme man in Belarus nur 100 Euro Strafe.
Am Abend, als das Fleisch fertig war, fuhr ein Lada-Niva vor, ein Polizeiauto mit einem Polizisten und einem Inspektor. Der Polizist sagte zu uns, lassen Sie mich erstmal vorlesen, was ihnen vorgeworfen wird: Sie äußern sich negativ gegenüber der belarussischen Regierung, auch über unseren Präsidenten, unterstützen nicht die Position Russlands im Konflikt mit der Ukraine, helfen ukrainischen Flüchtlingen, quartieren sie in Berlin bei sich ein und haben den beiden Personen letztes Jahr Drogen angeboten…
Da wusste ich, das reicht für ungefähr 5 Jahre Haft. Die Ermittler waren aber einfache Leute und irgendwie auf unserer Seite oder zumindest nicht auf deren. Wir wurden alle einzeln in dem Niva verhört, der Ermittler schrieb alles mit einem Stift auf einen Zettel. Draußen wurde es dunkler und dunkler.
Am nächsten Tag wurde mein Mann, der einen weißrussischen Pass hat, ins Polizeipräsidium der Stadt vorgeladen. Der Ermittler dort zitterte leicht und meinte, gleich komme jemand, der höher gestellt sei … Dieser Mensch, mit Aktenkoffer und gläsernen Augen, war vom KGB, wie der Geheimdienst in Belarus bis heute heißt. Er hatte die Akte nicht gelesen, auch nicht im Internet über uns nachgeforscht. Gegen uns lag nichts vor. Wir reisten am nächsten Tag aus.
Ich telefoniere mit einer jungen Frau, die aus der Südukraine stammt und jetzt in Odessa lebt, und bitte Sie, sich vorzustellen.
Ich heiße Jana und bin 28 Jahre alt. Ich wurde in Enerhodar geboren und lebte auch bis zuletzt dort. Das ist eine Satellitenstadt direkt am Atomkraftwerk Saporischschja, das jetzt von den Russen okkupiert ist.
Vor dem Krieg war das ein toller Ort, denn in den letzten Jahren gab es für junge Leute immer mehr Treffpunkte, Theateraufführungen und sogar ein Theaterfestival. Die Stadt ist gar nicht so groß, aber wir hatten einen mächtigen Wald nebenan und viele Parks. Ein Ort für ein ruhiges, gemäßigtes Leben.
Ich bin dort zur Schule gegangen und später an die Kunstoberschule gewechselt. Ständig hat das Atomkraftwerk verschiedene Kunstwettbewerbe und Kulturveranstaltungen gesponsert.
Zwischendurch war ich eine Weile in Kiew. Aber dann wurde ich krank und bin wieder zurück. Und dann kam Covid und schließlich der Krieg.
Stammt Ihre Familie aus Enerhodar?
Mein Vater arbeitete im Atomkraftwerk. Meine Mutter wuchs in einem Dorf dort in der Nähe auf. Dann haben sie sich getroffen (lacht) und schwupps wurde ich geboren. Sie waren zufrieden mit dem Leben in Enerhodar. Meine Mutter hat auch im Atomkraftwerk gearbeitet.
Wenn man das Wort Atomkraftwerk hört, denkt man an etwas Gruseliges … ATOMKRAFTWERK! Aber Sie erzählen es so, als wäre da nichts dabei…
Wir leben ja seit der Kindheit hier. Ich war mal bei einer Besichtigung der Blöcke dabei. Und man hat uns ständig darüber erzählt, denn es gibt in der Stadt ein Informationszentrum. Dort steht auch ein Model des Kraftwerks. Da kann man sehen, wie es gebaut ist.
Für uns ist das vollkommen normal. Unsere Kleinstadt ist der Wohnort der Atomkraftwerksmitarbeiter. Die Stadt hatte 50.000 Einwohner, davon arbeiteten 10.000 im Kernkraftwerk, rund ein Drittel aller Erwachsenen. Die anderen sind Kinder, Rentner, Verkäufer, Lehrer und Ärzte.
Was genau haben ihre Eltern gearbeitet?
Mein Vater arbeitet als Elektriker, als was genau, kann ich öffentlich nicht sagen. Er war für die Übertragungsleitungen verantwortlich und Mama saß in der Dokumentenverwaltung. Das Atomkraftwerk ist wirklich groß, das größte Europas, es besteht aus sechs Blöcken. Wir lebten somit in der Energiehauptstadt der Ukraine und, wenn man so will, auch Europas.
Ich bin künstlerisch tätig, deswegen war es mir immer egal, wo ich mich befinde. Ich male und nähe und verkaufe meine Sachen dann übers Internet.
Und Sie waren auch in Enerhodar, als der Krieg anfing, richtig?
So ist es. Um den 1. März 2022 fuhren die Russen an die Stadt ran. Die meisten Einwohner rannten raus und zu unserem Checkpoint und blockierten die Panzer. Am 2. März kamen sie wieder mit den Panzern, aber wir haben sie nicht reingelassen.
Meine Familie und ich sammelten Flaschen und bastelten Molotow-Cocktails. Der gesamte Ort ist raus und hat sie nicht durchgelassen. Aber am 3. März fingen sie an, mit den Panzern zu schießen und alle sind natürlich weggelaufen. Wir sind einfache Leute ohne Waffen. Alles, was wir hatten, waren die Molotow-Cocktails.
Gegen 16 Uhr an dem Tag rollten die Panzer in die Stadt und zum Kraftwerk und haben es von Panzern aus beschossen. Auch die Nacht über schossen sie in Richtung der Blöcke.
Ich saß zu Hause und dachte, das wars. Heute stirbst du. Auf dem Gelände des Atomkraftwerks brannte es. Es war so gruselig.
Konnte man das von Ihrer Wohnung aus sehen oder woher wussten Sie von dem Feuer?
Von der Wohnung aus konnte man nur hören, wie die Geschosse fliegen. Aber jemand, der vor Ort im Kraftwerk war, postete sofort den Brand und fragte, ob jemand draußen vielleicht was tun könnte, um sie aufzuhalten.
Um ehrlich zu sein, als der Krieg anfing, fuhren Leute aus Kiew und Charkiv extra nach Enerhodar, weil sie dachten, dort sicher zu sein. Niemand würde ja jemals das Atomkraftwerk bombardieren. Es war ein Schock, dass sie so einfach reinfuhren und es beschossen.
Sie haben einfach das Atomkraftwerk beschossen, oder wie? Ich verstehe das nicht ganz?
Ja, ja. Sie hatten sich in einem Teil der Ortschaft positioniert. Die Geschosse flogen über unsere Häuser hinweg, aber sie schossen nicht direkt auf die Reaktoren.
Das Atomkraftwerk ist groß, dort gibt es zum Beispiel den Transformatorbereich, wo auch irgendwelche Abfälle gesammelt werden. Dort stand ein großer Behälter mit Schmierfett, das hätte brennen können.
Also ließen sie das Fett ab, wahrscheinlich haben sie es geklaut und zu sich gebracht. Damit waren sie der Gefahr entledigt und wussten, wohin sie schießen müssen, ohne wirklich Schlimmes anzurichten - um dann Reportagen darüber zu machen, dass die ukrainische Armee angeblich das Kraftwerk bombardiert hat.
Aber das ist nicht wahr. Alle in Enerhodar konnten hören, von welcher Seite die Geschosse geflogen kamen.
Am Morgen dann war alles vorbei. Sie nahmen das Kraftwerksgelände ein und damit waren auch wir von ihnen okkupiert. Sie besetzten das Rathaus und die Polizei. Manche haben sich ergeben, aber einige der jungen Männer, die zurückgeschossen hatten, sind gestorben. So begann die Okkupation.
Zunächst haben sie uns nicht angerührt. Meine Eltern fuhren am nächsten Morgen zur Arbeit, weil ja niemand ihre Schicht gestrichen hatte. Das Atomkraftwerk musste schließlich jeden Tag versorgt werden.
Auf Arbeit sagten ihnen die Russen, dass, wenn sie sich friedlich verhalten, alles gut sein würde. So gingen sie weiter arbeiten, was sollten sie auch machen. Dann kamen verschiedene Chefs aus der Russischen Staatlichen Atomenergiegesellschaft angefahren und untersuchten das Kraftwerk. Das, was sie selbst beschossen hatten, prüften sie jetzt.
Wie war es für Ihren Vater dort zu arbeiten?
… mein Vater. Er ist, wie wahrscheinlich die meisten Männer, zurückhaltend und nicht sehr emotional. Für uns war es beängstigend, denn wir hatten ja kein Internet. Er ging zu Arbeit und sie haben den Beschuss des Werks wieder aufgenommen. Auf das Kraftwerksareal flogen einige Geschosse und man selbst sitzt zu Hause.
Dort schlägt es ein und wir wissen nicht wo und wie. Du kannst nicht mal anrufen und fragen, ob alles in Ordnung ist. Man sitzt den ganzen Tag und wartet bis er zurückkommt. Als er kam brachte er ein Stück von einem Geschoss mit und sagte: Schau es hat mich heute nicht getötet. Er hat es in einen Witz verwandelt, aber es ist gruselig, das alles.
Im Sommer fingen sie an, die Stadt Nikopol am anderen Ufer zu beschießen. Die Stadt Marhanez, gleich daneben, liegt bis heute unter Beschuss. Wir gingen in der Zeit nicht vor ein oder zwei Uhr nachts zu Bett, denn so lange wurde immer geschossen. Erst danach konnte man schlafen.
Einige Male gab es Provokationen und Geschosse flogen direkt in die Wohngegenden bei uns. Einmal war ich mit dem Hund tagsüber spazieren, als sie zu schießen begannen. Die Straße war menschenleer, alle saßen zuhause.
Nur einen Bekannten traf ich unterwegs. Neben meinem Haus war ein Sportplatz, dort standen wir und sprachen darüber, dass wir früher mit den Hunden im Wald spazieren waren, aber jetzt dort alles vermint sei. Deshalb blieb uns nur, zwischen den Häusern in der Stadt rumzulaufen.
Nach dem Gespräch mit dem Bekannten ging ich ins Haus rein und genau in dem Moment kam ein Geschoss angeflogen und hat ihn umgebracht. Ihn und den Hund. Gerade dort, direkt neben dem Sportplatz.
Sofort kamen von irgendwoher Menschen angerannt, ich weiß nicht von wo so plötzlich. Das waren ihre Reporter. Sie begannen zu filmen, eine Reportage zu machen, dass die ukrainische Armee Enerhodar beschossen habe und ein Mensch dabei getötet wurde. Sie haben darüber einen Film gemacht, einen Propagandafilm, einen weiteren.
Aber wie kann man überhaupt unterscheiden, wer wer ist? Wenn so eine harte Propaganda überall läuft, weiß man doch wirklich nicht, wer gerade bombardiert?
Die ukrainische Armee war auf der anderen Uferseite des Dnepr. Das sind mehrere Kilometer Entfernung. Wenn die Russen da rüber schossen, haben wir immer gezählt, wie lange es dauert, bis es einschlägt. Das sind so um die 40 Sekunden. Immer wenn es bei uns im Ort einschlug, dauerte es vom Abfeuern bis zum Einschlag 10 Sekunden, denn das ist eine andere Kilometerzahl. Aber vielе, die diese Propaganda geschaut haben, glaubten sie. Sie haben es nicht verstanden und konnten es nicht auseinanderhalten.
Aber was ist mit diesen ganzen Leuten, die die Propaganda machen. Die müssen doch auch irgendwo wohnen?
Deshalb hat es sich für sie auch nicht gelohnt, die Wohnhäuser in Enerhodar zu bombardieren, weil sich dort sehr viele Leute aus Russland einquartiert hatten. Sie gingen zu den Wohnungen und wenn niemand zuhause war, brachen sie sie auf. Gefiel sie ihnen, dann quartieren sie dort jemanden ein.
Vor zwei Wochen ist einer meiner Bekannten spurlos verschwunden. Niemand weiß von ihm weiß niemand was. Ich nicht und seine Familie auch nicht.
Auch andere von meinen Freunden und Bekannten haben das am eigenen Leib erfahren, wie es ist, in einen Keller verschleppt zu werden. Wenn du jemandem nicht gefällst, kann derjenige hingehen, dich verraten und behaupten, du hättest eine proukrainische Meinung. Dann kommen sie nachts zu dir und brechen die Tür auf. Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie sie am helllichten Tag in Masken einen Eingang stürmten, um eine Wohnung aufzubrechen. Die Menschen sind dann einfach verschwunden.
Ein Freund von mir saß zwei Monate lang in einem solchen Keller. Sie foltern dort. Sie können machen, was sie wollen. Sie schlagen zu. Sie können auch sagen, er sitzt dort, und die Familienangehörigen können ihm dann was bringen. Wie im Gefängnis.
Und in welchem Zustand kommen sie dann da raus?
Verängstigt. Wie sollen sie da rauskommen? Ausgemergelt. Es war furchtbar den Freund zu sehen, der dort zwei Monate saß.
Wer einmal im Keller war, darf die okkupierten Gebiete nicht mehr verlassen. Wir konnten irgendwann fliehen, man hat uns durchgelassen. Aber bei ihnen wird in die Papier geschrieben, dass sie nicht rausdürfen, niemals.
Damit sie es nicht weitererzählen….
Vielleicht ist es so, ja, vielleicht deswegen…
Wann sind Sie geflohen und wohin?
Meine Nerven haben den ganzen Druck nicht mehr ausgehalten. Nach einem halben Jahr, im September 2022, bin ich weg. Es war in erster Linie der psychologische Druck, als sie anfingen, sehr viele Bekannte zu verschleppen. Die einen saßen dort eine Woche, andere mehr.
Du gehst schlafen und denkst, oh Gott, lass sie bloß nicht in die Wohnung einbrechen. Bei meiner Bekannten sind sie in der Nacht gekommen. Sie hat ein Kleinkind, das war ihnen egal. Sie sind rein, um die Mobiltelefone zu prüfen, Durchsuchungen durchzuführen, nach Waffen zu suchen. Aus irgendeinem Grund fragen sie immer nach Waffen, als ob jeder Ukrainer irgendwelche Waffen zu Hause hätte. Als würden alle mit Gewehren leben.
Wegen all dem habe ich gepackt und bin raus. Damals konnte man nur über Russland, Mariupol oder die Krim ausreisen. Später war selbst die Krim nicht mehr möglich.
Ihre Eltern sind später ausgereist als Sie?
Ja, im Winter, nachdem sie meinen Vater auch beinahe in den Keller gebracht hätten. Er und seine gesamte Brigade hatten den Vertrag mit der Russischen Staatlichen Atomenergiegesellschaft nicht unterschrieben. Man beschuldigte ihn der Sabotage und warf ihm vor, alle dazu überredet zu haben, nicht zur Arbeit zu erscheinen.
Zum Glück rief ein Bekannter an, warnte ihn vor den Sabotage-Vorwürfen und drängte ihn, sofort zu packen und die Stadt zu verlassen. Innerhalb einer Stunde haben er und Mama gepackt, sich ins Auto gesetzt und sind losgefahren.
Zwei Tage lang wusste ich nicht, wo sie sind. Dann rief mich Mama kurz an und sagte, dass sie rausgekommen und jetzt in Russland seien. Später meldete sie sich aus Georgien. Da hat sie mich richtig angerufen und mir alles erzählt. Und dann reisten sie über die Türkei in die westliche Ukraine.
Jana, was ist jetzt mit dem Atomkraftwerk? Das macht ja allen Angst …
Zurzeit arbeitet nur ein Block von sechs, fünf haben sie abgestellt. Aber sie jagen allen Angst ein. Mein Freund arbeitete ja direkt in dem Reaktor, er ist Kernreaktor-Mechaniker und er sagt, damit was wirklich Schlimmes mit dem Atomkraftwerk passiert, müsse man sich schon sehr anstrengen. Die Angstmache ist eher ein Aufheizen von ihnen, das ist Terror…
Aber wenn man fünf Blöcke abschaltet, werden die irgendwie gekühlt?
Natürlich gibt es dort Kühlungssysteme, aber ein Problem ist, dass jetzt das Wasser weg ist, nachdem sie den Staudamm von Kachovka in die Luft gesprengt haben. Seither ist das Wasserreservoir vor dem Kraftwerk nicht mehr da.
Bislang ist alles unter Kontrolle, aber man weiß natürlich nicht, was man von den Russen noch zu erwarten hat. Jeder beruhigt sich damit, dass es ganz abwegig wäre, die Anlage wirklich in Gefahr zu bringen. Was für ein Mensch sollte man da sein?
Was für Informationen hat Ihr Freund? Das alles in Ordnung ist?
Im Großen und Ganzen ja (lacht), soweit das möglich ist. Das Absurde ist ja, dass das gesamte Atomkraftwerk vermint ist und das ist natürlich nicht normal. Alles wird so weit kontrolliert, wie es halt möglich ist.
Ich und meine Eltern sind die ganze Zeit im Kontakt mit denen, die dortgeblieben sind und noch arbeiten. Wenn wir sie erreichen, fragen wir, wie gehts, ob alles in Ordnung ist? Das wars. Details darf man am Telefon nicht ansprechen, weil alles bei den Russen abgehört wird. Natürlich haben alle Angst, dass man sie sonst abholen kommt.
Ich verstehe nicht, was sie alles vermint haben. Im Atomkraftwerk, wo Menschen arbeiten?
Einmal bombardierten sie eine Elektrizitätsleitung, in der ganzen Stadt war der Strom weg. Mein Vater ist hin und sie gaben ihm eine Schutzweste und sagten, geh und repariere das. Doch das war im Wald und die ganze Gegend war vermint. Also riefen sie erst mal ihre russischen Leute für die Minenräumung, die sagten, dort sei alles sauber.
Aber als mein Vater mit seiner Brigade hinfuhr, waren überall Minen. (lacht) Sie wissen selbst nicht, wo sie was vermint haben. Deren Leute werden ja ständig ausgewechselt. Die, die die Minen gelegt haben, sind weg und die Neuen haben keine Ahnung.
Bei uns im Dorf, wo meine Oma wohnt, zehn Kilometer von Enerhodar am großen Stausee, gibt es eine Straße, die direkt auf das Wasser zugeht. Queer durch die Straße, am Ufer entlang, durch Gärten haben sie Schützengräben gezogen und das Ufer vermint. Sie haben Angst, dass vom anderen Ufer unsere Leute kommen…
Und wie macht das Ihre Oma…?
Sie geht dort nicht hin. Auf den einen Teil ihres Feldes geht sie nicht.
Sie lebt also immer noch im okkupierten Territorium und will nicht weg, weil sie älter ist, und es ihr Feld ist …
Natürlich. Und der Hund!
Und wie geht es Ihnen selbst jetzt?
Mir geht es schon besser. Damals, als ich raus bin, hatte ich Depressionen. Das fing an mit dem Tod meines Bekannten, als das Geschoss einschlug. Ich hаbe mit einem Psychologen gearbeitet. Jetzt bin ich in Odessa, hier sind Sommer und Meer. Zwar riecht es nur nach Meer, man darf ja nicht hin. Aber meine Psyche hat sich wieder regeneriert, auch wenn es schwer war.
Warum darf man auch in Odessa nicht ins Meer?
Wegen der Minen und dem verschmutzten Wasser. Nachdem sie den Kachovka-Staudamm gesprengt hatten, floss das ganze Wasser mit dem Dnepr nach Nikolajev und Odessa. Da schwammen Sofas, die es ans Ufer spülte, ein Hund, Kühlschränke, Leichen von Tieren und Menschen… und Minen. Regelmäßig fliegt was in die Luft, ohne Vorwarnung. Überall stehen deshalb Schilder, dass Schwimmen verboten ist wegen all der Minen.
Viele reden schlecht über die Leute in den okkupierten Territorien, obwohl die am meisten leiden…
Ja, ich weiß. Als ob wir auf sie gewartet hätten, auf dieses Russland, als ob wir sie gerufen hätten. Niemand hat sie gerufen. Niemand hat auf sie gewartet. Vor dem Krieg lebten 50.000 Menschen in Enerhodar, jetzt sind es vielleicht 10.000. Alle anderen sind gegangen. Alle, die konnten.
Sendung: rbb24 Inforadio, 04.03.2023 | 09:08 Uhr