Tagebuch (2): Ukraine im Krieg - "Bitte komm, Oma, es ist Krieg!"
Die Regisseurin Natalija Yefimkina hat ukrainische Wurzeln. Seit Tagen hält sie Kontakt mit den Menschen vor Ort. In diesem Tagebuch berichtet sie darüber, wie es den Menschen in der Ukraine geht, aber auch was die Situation mit ihr macht.
Samstag, 5. März 2022, Berlin
Charkiw, die zweitgrößte Stadt der Ukraine, steht seit Tagen unter Beschuss. Ich frage meinen Freund Sascha, der gut vernetzt ist, nach Kontakten in die Stadt. Tatsächlich kann er mir jemanden vermitteln. Kurze Zeit später ruft mich Oleg an, er ist gerade unterwegs nach Lviv, um neue Medikamente für Charkiw zu besorgen. Im Hintergrund höre ich Autogeräusche und die ganze Zeit Telefongespräche über die Lage auf den Straßen.
Hallo Natalija. Ich bin auf der Straße, die Verbindung ist schlecht, es kann sein, dass sie abbricht. Ich bin eigentlich Chefredakteur einer Kette von Nachrichtenportalen in verschiedenen Städten. Ich heiße Oleg S., bin 29 Jahre alt, also fast 29.
Sie haben bald Geburtstag?
Ja! Und ich hoffe ihn auf dem Kreml zu feiern.
Was machen Sie jetzt gerade?
Ich bin Freiwilliger. Gerade transportieren wir humanitäre Hilfe nach Charkiw. Also Medikamente und Essen und so was, weil in Charkiw die Situation gerade sehr, sehr schlecht ist, milde gesagt.
Und wenn Sie es nicht milde sagen?
Ich entschuldige mich für meine Wortwahl, aber es ist die totale Scheiße. Sie beschießen Wohnhäuser mit Panzergranaten. Viele Menschen sind verschüttet. Vorhin gerade haben sie versucht, drei Köper von Zivilisten von der Butchma-Straße weg zu transportieren, eins davon ist ein Kind. Aber sie können es nicht, weil sie beschossen werden.
Sie greifen keine militärischen Ziele an, sie bombardieren einfach die Häuser. Saltovka zum Beispiel, ein Wohngebiet in Charkiw mit mehr als 250.000 Menschen - das wird von Flugzeugen aus mit Raketen und Gеschoßhagel ausradiert. Seit zehn Tagen schon. Es ist schwierig dort hinein zu kommen. Wir bringen dort humanitäre Hilfe hin und fahren gerade wieder neue holen. Die Tankstellen sind geschlossen, deshalb haben die Leute kein Benzin, um sich in der Stadt fortzubewegen und die Geschäfte arbeiten im Kriegsregime. Da manche Stadtteile völlig abgeschnitten sind, kann z.B. eine alte Dame nicht einkaufen gehen, wenn die ganze Zeit geschossen wird.
Freiwillige arbeiten, aber es sind wenige. Auch das Essen wird knapp, wir sind z.B. in den Vorort von Kharkiv gekommen und von den Freiwilligen kam ein Minibus, wir haben ihn so voll mit Essen gemacht, das er unter dem Gewicht fast bis zum Boden zusammensank und sie rufen schon wieder an und fragen, ob wir mehr haben.
Es ist ja alles so plötzlich passiert, niemand hatte das erwartet, deshalb ist die Logistik nicht ausgearbeitet. Und dann kommt die chaotische unerwartete Bombardierung dazu.
Sie sind aus Charkiw, Oleg?
Ja, gebürtig. Ich habe dort mein ganzes Leben verbracht.
Es tut weh, das alles zu sehen und zu hören…
Das sind Tiere und keine Menschen. Sie bombardieren Zivilisten, nicht das Militär. Es fliegt ein Flugzeug und wirft eine Bombe direkt auf ein Haus mit neun Etagen, sieben waren danach weg. Einfach ein Loch. Was in Tschetschenien war, ist dagegen ein Kindergarten. Auch Leute, die nicht politisch waren oder Pro-Russisch, hassen Russen gerade so sehr, dass sie sich in die erste Reihe der Verteidigung einschreiben.
Was war für Sie der schlimmste Moment?
Als ein Marschflugkörper in den Platz der Freiheit einschlug. Und ein anderer schlug in das Gebäude der Stadtverwaltung auf dem Platz ein, das ist der größte Platz in Europa. Und wofür? Das versteht man überhaupt nicht. Bei uns hier kann keiner verstehen, warum Zivilisten bombardiert werden.
Ich habe mal für ein Filmprojekt in Charkiw gearbeitet, deshalb tut es mir besonders weh. Charkiw ist die einzige Stadt mit Gebäuden aus der Epoche des Konstruktivismus.
Kennen Sie noch den Palast der Arbeit - fast vollständig weg, dort schlug eine Rakete ein. Man versteht ja, dass Krieg ist und die militärischen Ziele bombardiert werden, aber welche Militärtechnik befindet sich in der Schule Nr. 175, auf die direkt eine Rakete abgeworfen wurde.
Wo ist Ihre Familie Oleg?
Ich habe meine Familie sofort evakuiert. Das war sehr schwierig. Meine Oma ist 85 und ein Kriegskind, sie hat den zweiten Weltkrieg erlebt und als dieses Arschloch von einer "speziellen Operation" angefangen hat zu sprechen, da habe ich die Koffer gepackt. Als ich sie abholen kam, sie aus dem Bett hob und sagte "Bitte komm Oma, es ist Krieg", sagte sie "Wie, schon wieder?".
Haben Sie Kinder?
Es klingt jetzt komisch, aber Gott sei Dank nicht, ich würde nicht gerne in dieser Zeit ein Kind haben, ich werde in der freien Ukraine Kinder haben.
Haben Sie schon jemanden verloren?
Ich habe schon einige Freunde verloren…
Samstagabend, Berlin
Ich versuche meine Freundin Mila zu erreichen. Sie ist Fotografin, lebt mit ihrem Mann, einem deutschen Regisseur in Berlin und ist letzte Woche mit ihrer Kamera und einem Helm nach Kiew aufgebrochen. Sie stammt von dort und konnte nicht mehr stillsitzen. Ich lese ihren jüngsten Post auf Facebook:
"Am Tag des Angriffs entschied ich mich, nach Kyjiw zu fahren. Das dringende Bedürfnis dort zu sein, hat nichts zu tun mit dem Berichten aus der heißen Zone. Wenn der Krieg in mein Zuhause kommt, möchte ich irgendwie zu Hause sein. Es geht hier nicht um Fotografie, es geht um mich, meinen Ort, meine Geschichte und die Geschichte der ganzen Welt, die derzeit hier stattfindet.
Ich bin aufgewachsen im Bann der Geschichten meiner Großmutter, die die ganze Zeit während der Nazi-Besatzung von 1941 bis 1944 in Kyjiw war, und meines Großvaters, der Militärmusiker war und bis Königsberg und in die Mandschurei kam. Nie war Krieg für mich real, aber jetzt ist er hier. Meine Nichte und mein Cousin riefen mich am dritten Kriegstag an, als sie in den nördlichen Außenbezirken der Stadt unter Beschuss saßen. Sie weinten vor Angst, baten dringlich, ich möge in den Straßen Berlins demonstrieren und ihnen damit helfen, sie zu beschützen. Es waren Tausende auf den Straßen, rund um die Welt, aber kann das helfen?"
Samstag, 5. März 2022, Kiew
Später erreiche ich sie endlich am Telefon. Mila ist mittlerweile in Kiew und erzählt mir von der Fahrt. Sie spricht viel, ich unterbreche sie nicht.
Durch einen seltsamen Zufall fuhr ich auf der Fahrt von Lviv nach Kiew in der gleichen Autokolonne, in der auch ein kleiner Transporter diese unglücklichen Helme aus Deutschland transportierte, die erst jetzt in die Ukraine geliefert wurden. Dabei war es schon der 4. oder 5. Tag des Krieges und sie kamen zu den Menschen, die sie bereits am ersten Tag gebraucht hätten.
Als wir auf dem Weg in Zhitomir übernachten, versuche ich die anderen Fotografen, mit den ich unterwegs bin, zu überzeugen, vielleicht doch nicht nach Kiew zu fahren. Wir hatten nämlich die Info bekommen, dass alle ausländischen Medien Kiew verlassen haben und die Stadt wahrscheinlich sehr stark zerstört wird. Erst nach einer Weile habe ich mich beruhigt, und als ich in Kiew ankam, war das Gefühl ein ganz anderes: ein Gefühl der Ruhe, dass alles gut wird, mit Kiew und der Ukraine. Dass wir alle zusammen das überstehen werden.
Wenn Du durch die Straßen von Kiew fährst, siehst du, wie Mädchen, Jungs, alte Leute und Studenten gemeinsam Barrikaden bauen, miteinander lachen und alle lächeln. Alle sagen immerzu das gleiche, dass sie niemals durchkommen werden und dass wir es schaffen, die Stadt zu beschützen. Sie werden nicht durchkommen.
Dann bist du näher an der Front und die Soldaten lächeln und sagen, wir werden sie nicht durchlassen. Und es kommt das Gefühl auf, ja, man wird uns Waffen geben, man wird uns unterstützen und die Wahrheit ist auf unserer Seite. Die Ukraine ist ein tolles Land und Kiew ist so schön, alles wird gut.
Milas Stimme wird immer stockender. Ich versuche ruhig zu bleiben.
Ich bin etwas zusammengebrochen gestern. Ich habe den Tag in Irpin [ein Vorort von Kiew] verbracht, es war wirklich schlimm. Alle Straßen sind blockiert, die meisten werden beschossen und auf der einzig freien Straße nach Kiew ist die Brücke eingestürzt. Irpin ist mit dem Auto nicht mehr zu erreichen. Deswegen ist die Situation so, dass man zu der Brücke kommt und von der anderen Seite abgeholt wird. Sascha, der 40-jährige Bürgermeister, hatte deshalb extra ein Auto nach uns geschickt.
Die Kämpfe tobten am Freitagabend am Rande der Stadt, überall hörte man die Explosionen, Häuser brannten. Es war gruselig, aber die Jungs, die dort standen, um die Stadt zu beschützen, scherzten und wir lachten sogar ein bisschen zusammen. Aber als wir zurück an der Brücke waren, kamen gerade viele flüchtende Menschen an. Darunter war Kirchengemeinde mit Bussen
Mila fängt an zu weinen. Ich schweige weiter…
Um den Fluss zu passieren, mussten die Leute über Bretter balancieren, die dort ausgelegt waren …
Mila weint, aber spricht weiter
… und sie liefen und liefen, sie liefen um ihr Leben. Ich habe ein wunderschönes junges Mädchen gesehen, sie half ihren Eltern den Fluss zu passieren und ging dann zurück, weil auf der anderen Flussseite ihre Oma war, die bettlägerig ist. Sie ging zurück, um bei ihr zu bleiben.
Seit gestern kann ich nicht mehr aufhören zu weinen. Ich kann einfach nicht aufhöre. Aber ich bin jetzt endlich auch wütend auf die Russen. Es ist kein Hass, es ist nicht zerstörerisch, weißt Du, es ist eine Wut, die Kraft freisetzt. Man möchte dieses Satanswesen wegjagen, wegjagen, wegjagen. Zerstören, damit es niemals wiederkommt. Aber ich muss jetzt weiterschreiben, es gibt wirklich sehr wenig Zeit gerade.
Mila, halte bitte durch!
Ich halte durch, ich bin nur etwas zusammengesackt, weil mir die Menschen so leid tun.
Wein bitte nicht!
Bis bald