Tagebuch (26): Ukraine im Krieg - "Es gab kein Essen, kein Wasser und keine medizinische Versorgung"
Wer in Kriegsgefangenschaft gerät, dort 46 Tage unter schlimmsten Umständen überlebt, für den dürfte das Thema Armee danach erledigt sein. Für Alexej ist die Situation nicht so eindeutig, wie Natalija Yefimkina in ihrem Kriegstagebuch erzählt.
Ich habe mich in den letzten Wochen und Monaten wie wahrscheinlich auch viele andere weniger mit dem Krieg in der Ukraine beschäftigt, fast waren mir die Anrufe meiner Verwandten lästig, auch die Telegram-Kanäle habe ich abgeschaltet. Ich wollte wieder das Leben vor dem Krieg leben. Arbeiten, Filme machen und nach vorne schauen.
Leider ist es eine Flucht, und den intensivsten Moment hatte ich dann doch an Silvester, beim Telefonieren mit Max, einem Regiekollegen, der jetzt bei der Armee ist. Er fragte, warum wir denn wegschauen in Europa und ich dachte an mich selbst und mein Wegschauen.
Was wir uns denn denken? Dass wir nicht an der gleichen Stelle sein könnten? Dass wir besser vorbereitet sind? Max hasst den Krieg, er liebt das Kino, aber er hat sich einberufen lassen, wobei er doch kurz vorher endlich seinen Film fertiggestellt hat. Aber im Ausland ihn vorstellen wird er nicht können.
Auf meiner Suche rede ich mit Menschen, die Menschen kennen, und finde Alexej. Alexejs Geschichte ist so schwer, dass ich nach dem Gespräch noch Wochen brauche, um sie aufzuschreiben.
Alexeji: Ich bin Alexeji und ich bin 28 Jahre alt. Vor dem Krieg im zivilen Leben war ich IT-Spezialist. Dann ist es so gekommen, dass ich in den Krieg gegangen bin.
Erst habe ich gekämpft, aber dann bin ich in die Gefangenschaft geraten. Ich wurde verletzt und wurde gefangen genommen, ich lag dort 46 Tage lang. Dann wurde ich mit der Hilfe der 73. Fremdenlegion befreit, und dann war ich in der medizinischen Behandlung und bin es bis jetzt.
Natalija: Erzählen Sie mir von ihrer Gefangenschaft, was für Sie möglich ist?
In die Gefangenschaft bin ich nicht alleine geraten, sondern mit Freunden, mit den Mitbrüdern, einem Freund, einem Mitbruder. Leider habe nur ich überlebt, weil es kein Essen und kein Wasser gab, es wurde auch keine medizinische Hilfe geleistet.
In dem Keller waren wir 46 Tage ohne Essen und Trinken. Und der Freund, der mit mir in Gefangenschaft war, hat nur 30 Tage durchgehalten. Ich hatte etwas mehr Glück und habe bis zum Schluss durchgehalten.
War es Ihr bester Freund?
Wir haben uns in der Armee kennengelernt. Er war Komiker (lacht) und er trat auf in der Liga des Lachens (Ukrainische Teleshow).
War er denn auch verletzt?
Ja, er war auch verletzt.
Und Sie auch?
Ja.
Waren dort etwa alle verletzt oder wer saß in diesem Keller?
Nein, das waren nur wir, weil bei diesem Angriff nicht so viele Menschen überlebt haben. Wir waren bei einem schweren Angriff dabei, so ist es gekommen, das ist Krieg. An diesem Tag sind sehr, sehr viele Menschen umgekommen, sehr viele.
Erzählen Sie, was mit Ihnen war?
Ich war verletzt, hatte eine Schusswunde und eine weitere Kugel ist immer noch in meinem Rücken. Und meinem Freund waren die Beine zersplittert. Es gab gar keine Hilfe und keinen Zugang zu medizinischer Versorgung. Man hat uns nicht erlaubt, irgendwas zu unternehmen und selbst haben sie uns auch nicht geholfen, nicht mir und auch nicht meinem Freund. Deshalb ist er an einer Sepsis gestorben, an Blutvergiftung in diesen 46 Tagen. Er hat es nicht durchgehalten.
Was mich angeht, ich war angeschossen und konnte nicht gehen, deswegen lag ich da die ganze Zeit einfach rum. Man hat mich regelmäßig geschlagen, aber nicht sehr oft, weil sie keine Zeit für mich hatten, denn man hat sie sehr schnell getötet.
Sie waren also in Gefangenschaft und Ihnen hat niemand geholfen. Aber wie haben Sie gegessen oder wenigstens getrunken? Wie ging das?
Ich hatte eine gute Idee: In diesem Keller war eine Wand eingestürzt. Dort gab es Rohre, Rohre mit Frostschutzmittel. Wir haben Frostschutzmittel getrunken.
Und gegessen habt ihr nichts?
Einmal hat man mir was zu essen gegeben, ein paar Brotkrümel.
Wie haben sich die russischen Soldaten verhalten?
Ich hatte sehr großes Glück, weil sie sich nicht sehr für mich interessiert haben. Viele Männer wurden ziemlich schnell umgebracht. Sie hatten einfach keine Zeit für uns. Deshalb haben wir keine Hilfe, kein Essen und auch kein Wasser bekommen, weil es das alles gar nicht gab. Und sie wollten es nicht an uns verschwenden.
Sie waren nur mit ihrem Freund in der Gefangenschaft, aber was ist mit den russischen Soldaten, die Sie gesehen haben?
Sie wurden alle getötet, alle die ich gesehen habe. Man hat ihre Position gestürmt. Das war alles an der Frontlinie. Die Situation war so, dass sie nicht wegkonnten und unsere Soldaten konnten nicht näher ran, denn wir waren die ganze Zeit zwischen den Fronten. Man konnte mich nicht weiter ins Gefangenenlager bringen und unsere Soldaten konnten mich nicht holen, weil sie überhaupt nicht wussten, dass ich dort bin. Und dann haben sie mich nur zufällig gefunden. Als sie dieses Haus zurückerkämpft haben, haben sie mich dort gefunden.
Und außer Ihnen hat man niemanden lebendig gefunden?
Nein. Ich bin da rausgekrochen, habe ukrainische und englische Sprache gehört und habe gesehen, dass niemand mehr um mich herum lebt. Ich hatte das Bewusstsein verloren und kann mich nicht mehr so gut an diese Momente erinnern. Aber ich erinnere mich, dass ich die ukrainische und englische Sprache gehört habe und dann anfing, auf ukrainisch und englisch zu schreien. Und man hat mich gehört.
Wie kommen Sie mit dieser furchtbaren Erinnerung klar?
Ich fühle mich mittlerweile gut, viel besser als danach. Ich durchlaufe eine sehr gute medizinische Behandlung im Ausland. Somit ist alles super.
Sie sind also danach ins Ausland ausgereist?
Ja, ich bin gerade noch in der Behandlung, aber bald werde ich zurückkehren.
Aber nicht zurück in die Armee?
Niemand hat mich entlassen, also bin ich noch Armeeangehöriger.
Aber kann man nach dieser Erfahrung zurück in die Armee?
Ich weiß es nicht, wir werden sehen, was sie mir sagen. Kann sein, dass sie meinen, es geht.
Was haben Sie dort während der Gefangenschaft gedacht, wie haben Sie es geschafft, zu überleben?
Ich habe versucht, an überhaupt nichts zu denken, habe versucht nichts zu fühlen, nicht zu emotional zu werden, weil das hätte zu viel Kraft gekostet. Ich musste neutral gegenüber der ganzen Situation sein. Ich habe es zumindest versucht.
Aber Sie würden niemandem raten, in den Krieg zu gehen, oder doch?
Nein! So einen Rat würde ich auf keinen Fall geben.
Sendung: rbb24 Inforadio, 20.01.2024, 08:49 Uhr