Tagebuch (1): Ukraine im Krieg - "Julia, entscheide dich!"
Die Regisseurin Natalija Yefimkina hat ukrainische Wurzeln. Seit Tagen hält sie Kontakt mit den Menschen vor Ort. In diesem Tagebuch berichtet sie darüber, wie es den Menschen in der Ukraine geht, aber auch was die Situation mit ihr macht.
Donnerstag, 3. März 2022, 21 Uhr
Ich versuche seit Tagen, mit der Ärztin Oksana zu reden. Sie arbeitet am onkologischen Institut in Kiew. Zuletzt haben wir am Freitag, den 26. Februar, gesprochen. Sie hat wenig Zeit und abends hat sie keine Kraft mehr zu reden. Ich erreiche sie in den Abendstunden. Sie sieht blass aus, wirkt aber gefasst, lächelt sogar ein paar Mal.
Hallo Oksana, können Sie reden?
Ja, ich bin gerade von meiner Schicht nach Hause gekommen.
Sie sind blass.
Nein, alles ist gut. Das ist nur, weil es Abend ist.
Wie waren die letzten Tage?
Die letzten Tage waren in Ordnung. Bei uns in Kiew gibt es noch keinen so starken Beschuss, auch nicht dort, wo ich wohne. Aber zum Beispiel in Richtung der Stadt Tschernihiw, dort ist es sehr hart. In den Vororten von Kiew fehlen Schutzwesten und Helme. Freunde haben schon Geld gesammelt, aber es gibt sie hier einfach nicht mehr zu kaufen, alle sind weg. Es fehlen auch Autos, vor allem gepanzerte Fahrzeuge natürlich. Wir haben in Deutschland 15 Autos gefunden, aber jetzt müssen wir das Geld dafür zusammenbringen. Eine litauische NGO will uns helfen, sie sammeln Geld, an sie kann man auch spenden.
Was ist mit den krebskranken Kindern in Ihrem Krankenhaus, von denen Sie beim letzten Mal erzählt haben?
Wir konnten sie nach Polen evakuieren. Wir hatten eine Abmachung mit polnischen Krankenhäusern und zwei Hilfsorganisationen haben geholfen. Sie sind schon seit zwei Tagen mit Zügen nach Polen unterwegs, mit ihren Eltern und Begleitpersonal. Sie kommen wahrscheinlich bald an. Wir haben, soweit es ging, auch die Erwachsenen evakuiert, für den Fall, dass wir als Krankenhaus für Verletzte umrüsten müssen.
Und was ist mit Ihren Freunden und Verwandten? Wo sind sie?
Einige haben das Land verlassen, andere helfen, wo sie können. Wie meine Mama, sie ist 78 Jahre alt und kocht jeden Tag große Mengen Essen. Sie macht jeden Tag 30 Eimer mit Wareniki, gefüllte Teigtaschen, und übergibt sie den Soldateneinheiten. Wir sind eine unschlagbare Nation - und zugleich ist es wie ein schrecklicher Traum, den man vergessen möchte. Wenn die Sonne untergeht, dann wird einem ganz schwer zumute in Erwartung der Morgenstunden, weil sie normalerweise in der Nacht bombardieren. Meine Freunde sitzen alle in Kellern. Nicht zu allen haben wir noch Kontakt. Aber wir haben keine Angst, sie haben einfach keinen Strom und können ihr Telefon nicht laden.
Mir haben gerade Freunde geschrieben, die ihre Schwester nicht mehr erreichen können. Sie haben schon Krankenhäuser und Leichenhäuser abtelefoniert. Wissen Sie, wie man sie suchen kann?
KMDA, die Kiewer Administration, dort kann man anrufen. Sie wissen, wer alles verletzt wurde und wer gestorben ist.
Danke! Dann wünsche ich Ihnen eine gute Nacht, eine ruhige Nacht.
Ja, vielen Dank.
Ich schreibe den Verwandten des Mädchens die Hotline der Kiewer Administration. Gleichzeitig bekomme ich ein Video zugesandt, das so schrecklich ist, dass mir plötzlich keine Kraft mehr bleibt, überhaupt weiter zu machen. Wie ist das möglich? Wie ist es möglich, dass eine solche Katastrophe stattfindet?
Dienstag, 1. März 2022
Ich will mit meiner Cousine Julia telefonieren. Als ich letzte Woche las, dass Kiew bombardiert wird, habe ich einen Facebook-Post abgesetzt: "Kiewer Freunde, fahrt Eure Kinder raus, evakuiert sie." Prompt kam die Frage, ob ich dort sei, dass ich das doch gar nicht wissen könne. Ich war wirklich panisch. Was passiert mit all den Menschen und ihren Kindern?
Ich rief meine Cousine an. Julia ist fast genauso alt wie ich, wir haben unsere Kindheit zusammen verbracht. Dann ging ich 1997 nach Deutschland, sie blieb, heiratete und bekam zwei Kinder. Heute ist Danilo 10 und Luiza 6. Sie arbeitete zunächst in der Zentralbank, doch das machte sie nicht mehr glücklich. Also wurde sie Lehrerin, arbeitete als Montessori-Lehrerin an einer Inklusionsschule. In den Klassen lernen behinderte und nicht-behinderte Kinder zusammen. Solche Schulen gab es vorher nicht und Julia fühlte sich dort sehr wohl. Als letzte Woche der Krieg anfing, flüchtete sie mit ihren Kindern und ihrem Mann Artjom in das Haus der Schwiegermutter in einem Vorort von Kiew.
Ich erreiche sie über Handy und schalte das Video an. Ich habe einen Pelz an.
Artjom und Julia schauen in die Kamera.
Oh, Du hast einen russischen Pelz an. Wir haben jetzt keine so gute Assoziation mit den Russen.
Sie lachen.
Macht euch nicht verrückt, das ist kein russischer Pelz, es ist einfach nur ein Pelz.
Julia, ich wollte Dich fragen: Vielleicht ist jetzt die Zeit gekommen, um auszureisen?
Ja, wir machen uns gerade sehr viele Gedanken deswegen, vor allem nachdem Charkiw so stark beschossen wurde. Wir verstehen, dass das auch Kiew droht und dann können wir hier nicht mehr raus. Wir haben Essen und eine Badewanne und alle Gefäße mit Wasser gefüllt. Es hat geschneit, ich schau raus und denke: Vielleicht können wir ihn dann im schlimmsten Fall einschmelzen. Das ist schon schräg. Bis jetzt war alles ok, wir dachten es ist bald zu Ende. Aber jetzt…
Ich habe mit meinem Vater gesprochen. Sie sind mit dem Auto nach Polen unterwegs und hatten nur noch 18 Kilometer bis zu der Grenze. Sie haben an einem Tag ungefähr zwei, drei Kilometer geschafft. Er sagt, dass in den Dörfern an der Grenze, die Menschen sehr hilfsbereit sind. Sie machen Essen am Straßenrand. Ich gebe ja gerade auch Online-Unterricht, und meine Schülerinnen sind alle im Ausland.
Gleichzeitig habe ich Angst zu fahren, weil man nicht weiß, wie die Straßen sind. Ich habe Angst, dass ich meinen Kindern keine Sicherheit geben kann. Hier ist es komfortabel, sogar im Keller. Wir haben sogar einen Generator. Artjom werden sie nicht rauslassen, ich will ihn nicht alleine lassen. Ich habe nicht mal einen Führerschein, der ist noch auf meinen Mädchennamen ausgestellt. Aber niemand weiß, wie lange das dauern wird. Kurz gesagt, ich weiß nicht was ich tun soll. Es ist furchtbar. Würdest Du fahren, wenn Du hier wärst?
Auf jeden Fall. Es ist eine Sache, dass die Männer bleiben, aber die Kinder sollte man an einen maximal sicheren Ort bringen. Dieser Ort ist nicht in Kiew, auch nicht am Rand von Kiew, anirgendwo in der Ukraine. Deine Kinder sind klein und brauchen diesen Scheiß-Krieg nicht zu sehen, weißt Du.
Ja.
Es fahren noch Züge. Nimm eine Freundin mit, es findet sich doch bestimmt eine…
Ja, ich habe eine Freundin in Lwiw, meine Trauzeugin. Noch will sie nicht ohne ihren Mann fahren. Sie sagt auch, dass sie Freunde in Tschechien hat, nur die Grenze müssen wir passieren.
Julia, entscheide Dich! Es ist häufig so, dass Frauen allein mit ihren Kindern fliehen. Wir warten auf Euch!
Vielen Dank. Danke.
Mittwoch, 2. März 2022
Am nächsten Morgen macht sich Julia mit ihren beiden Kindern auf den Weg. Ich mache einen Spaziergang mit dem Hund und lese nebenbei Nachrichten. Kiew wird bombardiert. Oh Gott, und wenn ich verantwortlich bin, dass sie auf dem Weg getroffen werden? Ich weine leise. Die anderen Hundebesitzer grüßen mich, reden über den schönen Frühlingstag. Ich versuche, mich zusammenzureißen. Ich kann Julia nicht erreichen!
Ich rufe ihren Mann an. Er sagt mir: Sie sind am Bahnhof, es sei so laut wegen des Bombenalarms. Ich kann die Explosionen durchs Telefon hören - und mein Herz bleibt jedes Mal stehen.
Ich bekomme eine wütende SMS von meiner Mutter: Ich solle mich nicht einmischen, die Menschen vor Ort wissen besser, was richtig ist. Ich solle sie nicht in Gefahr bringen, nicht unter Druck setzen.
Ein paar Stunden später bekomme ich ein Foto von den Kindern im Zug. Mir fällt ein Stein vom Herzen. Aber wie wird die Fahrt? Ist es sicher?
Um 23:52 Uhr kommt eine SMS von Julia:
Ich kann nicht sprechen, es sind sehr viele Menschen, und es ist sehr laut. Aber es heißt, wir sind in 40 Minuten in Lwiw.
Donnerstag, 3. März 2022
Um 03:21 Uhr kommt eine SMS von Julia:
Alles ist gut. Wir warten auf einen anderen Zug Richtung Polen. Als wir von zu Hause abgefahren waren, ist eine Rakete in der Nähe eingeschlagen. Sie wurde abgeschossen, aber die Splitter haben das Heizkraftwerk in der Nähe des Hauses von den Schwiegereltern getroffen.
Freitag, 4. März 2022
In der Nacht zu Freitag berichtet Julia per SMS, dass sie stundenlang in einem Zug auf dem Weg nach Polen stehen und sich die Weiterfahrt immer wieder verzögert. Der Zug ist völlig überfüllt, in den Toiletten gibt es kein Wasser, sie sind völlig verdreckt. Die Menschen sind teilweise seit mehreren Tagen unterwegs, angespannt, viele Kinder weinen. Freitagmorgen dann die erlösunden SMS aus Polen:
Wir sind um 4.00 angekommen, wo uns eine Familie aufgenommen hat, alles ist gut, wir haben ein wenig geschlafen. Jetzt wollen wir weiter Richtung Berlin.