Tagebuch (5): Ukraine im Krieg - "Sie schossen durch die Küchentür, mit einem Abstand von vier Metern"
Andreis kleines Hotel in der Nähe von Kiew wird beschossen. Kurz darauf dringen russische Soldaten ein: Natalija Yefimkina hält von Berlin aus Kontakt mit Menschen in der Ukraine - und berichtet darüber in diesem Tagebuch.
Mittwoch, 23. März 2022, Berlin
Der Krieg geht weiter und ich frage mich, wie man sein normales Leben weiterleben soll, während Verwandte, Freunde und Bekannte in jedem Moment alles verlieren können. Alles. Das ist ihr Leben. Die Nachrichten, die Sendungen, auch die normalen Gespräche in Berlin sind unerträglich geworden. Die eine sagt, die Nato ist ein Schweinehaufen, der andere sagt, die Ukrainer müssten ihren Nationalismus dann lange aus ihren Köpfen hämmern.
Solche Gespräche sind nur schwer erträglich, wenn man um das ganze Leid von unschuldigen Menschen weiß. Auch das Fernsehen. In den Sendungen geht es nicht darum, wie man den Wahnsinn stoppt, also etwa um den sofortigen Importstopp von russischen Bodenschätzen, die Russland jeden Tag eine Milliarde Euro aus Europa bringen, und auch nicht um die Lieferung von nötigen Kampfflugzeugen, sondern darum wann die EU wieder tagen wird, um die Energiewende zu besprechen.
Das Einzige, was wirklich beruhigt, ist den Menschen vor Ort in der Ukraine zuzuhören, die irgendwie, um das Letzte kämpfend, so aufrichtig sind. Ich lache und weine gleichzeitig.
Andrei und seine Frau Elena habe ich vor zwei Jahren kennengelernt. Wir hatten in der Nähe von Kiew, in Irpin, sein Gästehaus entdeckt und uns dort eingemietet. Das war für das ganze Filmteam ein großes Glück, denn es war ein Stück Europa mitten in der Ukraine. Wir verbrachten dort unseren gesamten Dreh von 1,5 Monaten, freundeten uns an, spielten mit den beiden Hunden und mochten die Weltoffenheit dieser Familie sehr.
Ich rufe Andrei an und bitte ihn sich vorzustellen:
Ich heiße Andrei Kolesnikov, bin 45 Jahre alt und habe die letzten fünf Jahre von der Vermietung unseres Hotels gelebt. Das ist nicht einfach ein Gästehaus, sondern in der Art des skandinavischen Minimalismus ausgestattet. Aber das Wichtigste war nicht das Design, sondern die Community, die dieses Haus angezogen hat.
Es gab eine Reihe von Menschen, die hier dauerhaft wohnten, die von der Arbeit kamen mit schweren Gedanken. Im Foyer trafen sie dann auf andere Leute, solche wie dich, die gerade eine Retrospektive von Ingmar Bergman von 1953 anschauten. Und dann konnten sie ausatmen.
Ich habe an der Kiewer Universität internationale Beziehungen studiert. Später hab ich für Firmen wie Samsung, Panasonic oder Lenovo gearbeitet und musste sehr viel reisen - manchmal bis zu 25 Mal im Jahr in unterschiedliche Länder. Ich wohnte auch eine Zeitlang in China und in Europa und habe zeitweise in England studiert. Deswegen sind ich und meine Frau sehr weltoffen.
Ich frage ihn, wie er die ersten Tage des Krieges erlebt hat.
Die Familie hatte ich lange vor dem Krieg bereits nach Europa geschickt, schon an dem Tag, als Russland seinen Botschafter abgezogen hat. Das war, glaube ich, am 11. Februar. Drei Stunden, nachdem ich das erfahren hatte, hatte ich bereits für alle Tickets gekauft, also für meine Frau, mein 13-jähriges Kind und meine Schwiegereltern, die gerade bei uns waren. Der Ältere war wegen eines Vorbereitungsjahres sowieso schon im Ausland. Nur meine Eltern sind in Kiew geblieben.
Wir waren bereit, wir hatten Benzin gelagert, der Generator funktionierte. Bis zum 24. Februar, als einige der Gäste gingen, hatten wir immer noch eine ideale Ordnung, das beruhigte.
Ich wusste, dass der zweite Weltkrieg um vier Uhr nachts angefangen hat, und irgendwie konnte ich die Nacht vom 23. auf den 24. nicht schlafen und bin um drei Uhr aufgestanden. Ich musste meinem Sohn noch mit dem Motivationsschreiben für die Uni helfen. Und da dachte ich noch, ich sollte bis 4 Uhr dieses Motivationsschreiben fertig haben und es ihm schicken, denn wenn der Krieg kommt, gibt es ab vier Uhr kein Internet mehr und ich werde es nicht rechtzeitig schaffen und das Kind leidet dann. Das Schreiben hatte ich dann tatsächlich Viertel vor vier fertig. Um halb fünf flogen zwei Raketen über unser Haus.
Bis zum 5. März war das Hotel in perfektem Zustand. Wir hatten Gas und Internet, wir waren entweder für die Besetzung bereit oder für die Aufnahme von Gästen. Diese Sauberkeit und die Bereitschaft, sein Business weiterzuführen, beruhigte.
In dieser Zeit war bei mir unser ständiger Bewohner Pawel. Er war früher Pfarrer in einer der Kirchen hier und glaubte bis zuletzt, dass Gott uns davor bewahrt. Als die Granate einschlug, waren wir zu zweit: ich in der zweiten Etage, Pawel im Treppenhaus in der dritten Etage. Wir hatten wirklich Glück, dass uns nichts passiert ist, aber das Hotel hat ziemlich stark gelitten.
Die Eingangstür ging nicht mehr auf. Ich wollten kein Krach machen, weil überall Glasscherben lagen. Die Granatwerfer waren ungefähr 500 Meter von uns entfernt. Wir verhielten uns still, um keine Aufmerksamkeit auf uns zu ziehen. Man hätte uns umbringen können.
In der Nähe unseres Hauses hatten die Russen Granatwerfer aufgestellt und überall wurde geschossen. Die Hunde hatten einen unglaublichen Stress: Als die Granate einschlug, kam der große Hund über die Glasscherben zu mir. Sie hat sich ihre Pfoten verletzt und wich von da ab nicht mehr von meiner Seite.
Andrei erzählt sehr lebhaft. Er ist ein Mann, der es gewohnt ist, Probleme zu lösen. Dass er auch jetzt an sich hält, erfüllt mich mit großem Respekt.
Das ist sehr gruselig, wenn du am Morgen aufstehst und verstehst, dass um dein Haus herum Panzer stehen und sie bestimmt gleich zu dir kommen. So kam es auch. Um 7:30 Uhr morgens wurde das restliche Glas an der Eingangstür herausgehauen und Russen kamen zu uns herein. Sie schrieen: Wer ist da? Und wir sagten, Zivilisten, Zivilisten.
Sie haben sich für die amerikanischen und kanadischen Visa interessiert, die ich in meinem Reisepass hatte - ich hatte einen Notfallkoffer mit den ganzen Papieren und den hatten sie gefunden. In dem anderen Pass hatte ich viele europäische Visa und aus irgendeinem Grund haben sie sich über die Stempel von Frankfurt aufgeregt. Dann fanden sie Geld, diese Jungs, ich weiß auch nicht, sie waren von irgendwo aus Zentralrussland und haben nicht mal gewusst, wie Euros aussehen. Ich hatte 700 Euro und sie haben mich gefragt, was das für Geld sei.
Der Älteste fand, dass ich ein internationaler Spion bin wegen der amerikanischen und kanadischen Visa und plötzlich stand eine Entscheidung im Raum: Pawel am Leben lassen und mich erschießen. Bis zuletzt habe ich geglaubt, dass es ein Witz ist, ein Scherz, Jungs, sagte ich, ja, das sind Visa, wir fahren nach Europa und nach Amerika, das ist ein normaler Lifestyle.
Sie setzten mich und Pawel in die Küche, Pawel etwas weiter weg, mich auf einen Stuhl in so einer Nische, und taten so, als ob sie was besprechen gingen. In dem Augenblick sagte Pawel zu mir: bete! Es klingt banal, aber zum ersten Mal in meinem Leben betete ich. Durch die Tür waren sehr schnelle Maschinengewehrsalven zu hören.
Erst da verstand ich, dass sie auf mich schießen. Sie schossen durch die Küchentür, mit einem Abstand von ungefähr vier Metern, die Patronen flogen in einem Haufen, aber ich hatte Glück, dass die Tür sehr dick war. Sie hat die Patronen verteilt.
Von den fünf Patronen hat mich nur eine getroffen, sie hat mein Bein gestreift. Ich fing an zu schreien - Nicht schießen! Nicht schießen! und rannte zur anderen Tür hinaus. Da sah ich den Menschen, der sein Maschinengewehr wieder geladen hat und ich schrie: Nicht schießen!
"Du bist am Leben?"
"Ja, ich bin am Leben."
"Dann hattest du Glück."
Und ich zu ihm: "Versprich mir, dass du nicht mehr schießt."
Da sagt er vor seinen Mitstreitern: "Ja, ich verspreche es."
Ich stocke, meine Stimme ist nicht mehr da. Andrei fragt, ob er weiter erzählen soll.
Unsere Gäste waren Hals über Kopf abgefahren und hatten alles dagelassen, ihre Fotoapparate, Notebooks, eine Messersammlung, eine E-Gitarre. Viele waren ja monatelang da, manche sogar über ein halbes Jahr. Die Russen holten alles raus und teilten es unter sich auf. Mich hatte mein nächster Nachbar gebeten, nach seinem Haus zu schauen, er hat mir seinen Schlüssel dagelassen. Die Soldaten schossen einfach die Schlösser weg, brachten die Hunde um und raubten das Haus aus.
Unseren großen Hund wollten sie zwei Mal erschießen. Ich habe gesagt, schießt nicht auf ihn, ihn lieben die Kinder, das ist ein Kinderhund, das ist einfach ein großer Pudel. Und sie sagten, dann halt ihn bei dir, also hielt ich ihn, Most heißt er, immer am Halsband fest.
Irgendwann fingen die Russen an, ihre Position zu wechseln, sie waren offensichtlich eine Vorgruppe, die unsere Gegend einnehmen sollte. Sie hatten Angst, dass ihre Position aufgedeckt wird. Sie marschierten vor, aber wurden sehr schnell wieder zurückgedrängt. Letztlich entschieden sie sich, sich nicht mehr zu bewegen und die Position um unser Hotel zu halten. Sie hoben einen Graben aus, positionierten ihre Panzer und entschieden sich, bei uns in den Stockholm-Zimmern zu übernachten.
Uns befahl man, mit ihnen im gleichen Haus zu schlafen. Wir haben in der zweiten Etage übernachtet, in dem Loft, wo Pawel vorher lebte: ich, Pawel und die zwei Hunde.
Die Besatzer haben uns wie lebende Schutzschilde benutzt. Wenn unsere Armee oder die Partisanen angegriffen hätten, hätten sie uns ganz sicher als erstes erschossen.
Am nächsten Morgen gegen 12 Uhr fuhren sie plötzlich ab. Ich fragte, was mit uns sei. Sie sagten, wir könnten bleiben. Wir entschieden uns, Irpin zu verlassen.
Wir verließen Irpin zu Fuß mit den zwei Hunden, die Pässe mit den Visa ließ ich im Haus. Alle zivilen Bewegungen waren verdächtig. Deswegen standen auf den Straßen Autos mit erschossenen Menschen darin, auf den Straßen lagen tote Zivilisten, so furchtbar, so furchtbar ... Wir mussten ins Zentrum von Irpin und in die Domstraße und dann sind wir Richtung Romanovka gelaufen, wo uns Freiwillige in Empfang nahmen.
So wurde ich gerettet.