Tagebuch (8): Ukraine im Krieg - "Es war sehr gefährlich, Wanja herauszubringen"
Natalija Yefimkina hält von Berlin aus Kontakt mit den Menschen in der Ukraine. Für diesen Tagebucheintrag hat sie mit Tatjana gesprochen. Die hat ihren Sohn Wanja aus Donezk herausgebracht, damit er nicht gegen die Ukraine kämpfen muss.
In meinem Social-Media-Stream häufen sich die Posts mit Forderungen nach einer Kapitulation der Ukraine. Meine deutschen Freunde reden darüber, dass Waffen nicht die Lösung seien. Das Leid solle ein Ende haben. Dabei habe ich das noch nie von einem Ukrainer gehört, und ich spreche täglich mit sehr vielen verschiedenen Menschen. Sie stehen ein für ihre Identität, ihre Werte, ihre Freiheit, die Möglichkeit so zu leben, wie sie wollen. Manchmal habe ich das Gefühl, dass manche meiner Freunde hier zu lange gut und sicher gelebt haben.
Ich traf Alexander 2013 in einem Taxi in Donezk, für einen Taxifahrer war er zu fein angezogen. Und er kannte sich bestens auf dem Donezker Friedhof aus. Er kannte alle jungen Männer, deren Namen in die Grabsteine eingraviert waren. Auf Fotos waren sie zu sehen in Sportanzügen mit dicken Autos und Waffen.
Es stellte sich heraus: Alexander ist Priester, Priester in einem Gefängnis - und Taxifahrer, weil es nachts die meisten Menschen gibt, die sich bekehren lassen. Alexander saß selbst insgesamt mehr als 20 Jahre im Gefängnis, er war in den 1990er Jahren eine Autorität im kriminellen Milieu der Stadt.
Ich wollte einen Film mit Alexander drehen, doch bekam keine Finanzierung. Ein Jahr später fingen die Unruhen in Donezk an. Das Gefängnis sollte befreit werden und man schlug Alexander vor, die Insassen anzuführen, im Kampf gegen die Ukrainer. Alexander lehnte ab und ging auf den Donezker Majdan, er war einer der wenigen, die dort protestierten. Er wurde festgenommen, gefoltert und drei Mal wurde ihm die Erschießung angedroht. Als er rauskam, schickte er mir Fotos, sein Körper war von unten bis oben grün. Er sagte mir, er würde oft in seinem Leben geschlagen, aber so noch nie. Kurze Zeit später starb er an den Folgen. Er war 53 Jahre alt.
Von seinem Tod erfuhr ich von Tatjana. Sie war in der gleichen Kirchengemeinde und betreute mein erstes Kind in Donezk, es war damals anderthalb Jahre alt. Ich habe nie wieder eine so einfühlsame Babysitterin für unsere Kinder gefunden. Als der Krieg in Donezk 2014 ausbrach, fragte Arte nach einem Flüchtlingskind und einer Reportage. Ich rief Tanja an, sie hat fünf Kinder. Wir drehten in der Nähe von Kiew, wo sie mit drei ihrer Kinder geflohen war. Jetzt versuche ich sie wieder zu erreichen. Sie hat kein Netz, kein Internet und nur einheimische Provider. Sie kann nicht sprechen. Ich verstehe, dass sie in Donezk ist. Zwei Wochen versuche ich sie zu erreichen.
Dann kommt die SMS: "Ich bin erreichbar". Ich rufe sie über Signal an. Sie lacht, ich auch.
Endlich haben wir es geschafft!
Ja, nicht einmal zwei Wochen haben wir dafür gebraucht.
Bitte erzähle doch kurz, was du gerade hinter dir hast!
Ich heiße Tatjana, ich bin 49 Jahre alt. Ich bin Mama von fünf Kindern und zwei Enkeln. Am 16. April bin ich aus Donezk ausgereist, ich habe meinen älteren Sohn Wanja evakuiert. Er sollte von der Donezker Volksrepublik [ein im Osten der Ukraine proklamiertes De-facto-Regime, das nur von Russland anerkannt wird. Anm.d.Red.] in die Armee eingezogen werden. Ich bin mit ihm, seinem zweijährigen Sohn und meiner jüngsten 14-jährigen Tochter Angela ausgereist. Angelina hatte keine Kindheit, denn wir waren 2014 vor den Beschlüssen aus Donezk geflohen. Das Kind hat acht Mal die Schule gewechselt, sie war im ständigem Stress, sie hatte praktisch keine Kindheit.
Wie ist es dir bei der Ausreise ergangen?
Das war hart.
Ihr habt lange gebraucht, um aus Donezk zu fliehen?
Es war sehr gefährlich, Wanja herauszubringen. Sie nehmen die Männer einfach aus dem Auto mit, egal ob du Ehefrau oder Kinder dabei hast. Das interessiert sie nicht, sie nehmen dich aus dem Auto mit, und das war's.
Wie alt ist Wanja?
Er ist 27.
Warum wart Ihr überhaupt in Donezk?
Wir sind vor zwei Jahren zurückgekehrt, die Mädchen haben angefangen, ihr Zuhause zu vermissen. Es war schwierig in Kiew. Es kam der Lockdown, ich habe meine Arbeit verloren. In Donezk habe ich in der Nachbarstadt eine Arbeit als Näherin gefunden.
In Donezk war es mehr oder wenig stabil und ruhig, die Menschen haben hier weitergelebt, speziell unserer Gegend hier war ruhig. Zum Jahreswechsel haben uns Wanja und sein Sohn besucht, er war acht Jahre nicht mehr zu Hause. Es war sicher, sie sind gut hierhergekommen. Aber er hat es nicht mehr geschafft, zurück zu reisen. Wir saßen in Donezk, es wurde stark bombardiert. Ich habe gehört, dass sie Bombenwerfer mitten in der Stadt aufgestellt haben sollen und den Stadtrand beschossen haben. Um bei den Leuten Hass zu schüren, damit die Leute denken, dass die Ukraine sie beschießt und niemand sie braucht. In solch einer Weise sollen sie für Russland agitiert haben.
Sie haben auch angefangen, alle Männer zu holen. Es gab Freiwillige, aber es gab auch die, die sich versteckt haben. Es kam zum Beispiel ein Lastwagen auf den Markt, denn alles funktionierte, die Märkte, die Geschäfte waren in Donezk offen. Sie kommen auf den Markt, wenn am meisten los ist, und umzingeln den Markt. Sie machen eine Razzia und nehmen alle Männer bis 60 einfach mit.
Und was war mit deinem Sohn?
Er ist mehr als 50 Tage überhaupt nicht rausgegangen. Wenn ich auf der Straße von Bekannten gefragt wurde, habe ich gesagt: Sie sind weggefahren, sie sind nicht mehr da. Er war alleine gekommen, seine Frau hat gearbeitet und wir wollten dann den Opa auf der Krim besuchen, damit er seinen Urenkel sieht, aber wir mussten uns verstecken, niemand fuhr nirgendwo mehr hin. In der Nacht fing starker Beschuss an, unser Haus wackelte, wir haben unseren Keller vorbereitet. Samuel, Wanjas Sohn, hat sehr stark angefangen zu weinen. Wir konnten ihn zwei Tage nicht beruhigen. Bei jedem Geräusch fing Samuel an zu schreien, er hat alle zu sich gerufen, damit er alle sehen kann. Damit alle in seiner Nähe sind. Dann hat er sich etwas beruhigt.
Wir haben nach Möglichkeiten gesucht, wie wir rauskommen können, in erster Linie Wanja, damit niemand ihn irgendwohin mitnimmt. Und dann sind die Razzien noch schlimmer geworden. Sie sind zu dritt einfach in jedes Haus rein und haben die Männer aus den Kellern geholt, egal wo sie sich versteckt haben. Wir konnten nicht mehr bleiben. Die Kinder haben geweint, Angelina hat Angst, wir alle hatten Angst.
Dann haben sie uns auf dem zweiten Checkpoint angehalten - und dort haben sie Wanja die Einberufung ausgehändigt und haben ihm gesagt, er soll seinen Sohn holen, wir nehmen dich vom Bus aus mit. Aber solange sie abgelenkt waren, hat er nichts den Fahrern gesagt und wir sind weitergefahren. Beim letzten Checkpoint war er sehr lange weg, eineinhalb Stunden ist er nicht gekommen. Und sie haben mir das Kind gebracht und gesagt, wir werden etwas besprechen und das Kind bleibt bei Ihnen, und er war 1,5 Stunden weg. Dann haben sie ihn Gott sei Dank gehen lassen. Weil er mit dem Sohn da war. Samuel ist da aufgewacht und hat ganz schlimm angefangen nach Papa zu schreien - und man hat ihn rausgelassen.
Ein paar Tage später bekomme ich von Tatjana eine SMS, sie hält mit ihren Freunden und Nachbarn in Donezk Kontakt. Das schreibt sie mir.
Die Situation in Donezk hat sich sehr zugespitzt, was den Beschuss, aber auch die Einberufung betrifft. Viele Männer und Jungen verlieren die Nerven, weil sie zu Hause sitzen. Kürzlich hielt es ein junger Mann nicht mehr aus und rannte einfach aus der Wohnung, seine Eltern suchten nach ihm, konnten ihn aber nicht einholen. Am nächsten Morgen wurde er an einem Baum gefunden, er hatte sich erhängt. Ein anderer begann, in jedem Menschen einen Verfolger zu sehen, er hat Angst, in seinem Versteck entdeckt zu werden. Die Familie leidet sehr darunter, sie dürfen kein Licht anmachen und auch nicht reden... Es gibt so viele solcher Schicksale.