Tagebuch (3): Ukraine im Krieg - "Er hat immer davon geträumt, ein Offizier zu werden. Gestorben ist er am 27. Februar"
Ein Vater spricht über seinen im Krieg gefallenen Sohn, die fliehende Familie erreicht endlich Berlin: Natalija Yefimkina hält von Berlin aus Kontakt mit den Menschen in der Ukraine - und berichtet darüber in diesem Tagebuch.
Donnerstag, 10. März 2022, Berlin
Der Krieg ist zermürbend, auch für mich hier in Berlin. Ich glaube, ich hatte noch nie eine solche Schwere gespürt und mit ihr gelebt. Nur im Schlaf vergesse ich es. Und doch ist das Gespräch mit den Menschen vor Ort das Einzige, das einem richtig erscheint und einen unmittelbar in die Realität zurückholt.
Vor zwei Jahren habe ich für eine Fernsehreihe über verlassene Orte Viktor kennengelernt. Er kommt aus der Ukraine und hat in Deutschland in einem russischen Stützpunkt gedient. Seitdem sind wir in Kontakt geblieben. Jetzt habe ich erfahren, dass sein Sohn gefallen ist, ich schreibe ihn an.
Donnerstag, 10. März 2022, Chmelnyzkyj
Viktor hat geantwortet.
Natascha (Umgangform für Natalija, Anm.d.Red.), ich werde Sie erst mal nicht anrufen: Ich habe keine genauen Informationen über den Tod meines Sohnes und habe jetzt nicht das Recht, die Kommandanten mit Fragen zu löchern.
Zenja war in einer Eliteeinheit und hat alles ganz gut verstanden. Für den äußersten Fall hat er dem Kommandanten meine Nummer gegeben - ich hätte es als erstes erfahren sollen, so ist es auch passiert. Es war schwierig, es seiner Frau zu sagen, ich dachte, sie wird verrückt.
Heute befinden wir uns in einem relativ sicheren Ort und meine Verantwortung ist es, die Familie meines Sohnes zu unterstützen. Verstehen Sie mich nicht falsch. Es gibt Menschen, die befinden sich in einer viel schwierigeren Lage als ich, die gezwungen sind, in den Kellern zu gebären, Menschen, die bombardiert werden. Sie haben was zu erzählen. Ich kann gerade über meine Gefühle mit niemandem reden.
Ich frage ihn, ob ich unsere Kommunikation veröffentlichen kann.
Ja, können Sie. Sie können ja schreiben, dass niemand mein Volk auf die Knie zwingen wird.
Ich bitte ihn, mir kurz über sich zu schreiben.
Ich bin geboren und aufgewachsen in der Ukraine. Ich werde bald 60. Jetzt lebe ich in der Stadt Chmelnyzkyj. Meine Familie - die Opas, die Omas, meine Mama und mein Papa - haben den damaligen furchtbaren Krieg erlebt.
Ich bin Berufsoffizier. Jetzt im Ruhestand. Ich habe ein militärisches Institut besucht und bin Nuklearwaffen-Spezialist. Von 1986 bis 1990 diente ich in Deutschland, im Objekt 73274, in Stolzenhain. 1991, als die Ukraine unabhängig wurde, wurden die Nuklearwaffen der Russischen Föderation übergeben. Viele Offiziere sind in die Russische Föderation gegangen. Ich hatte eine sehr erfolgreiche Karriere. Aber ich habe mich entschieden, in der Ukraine zu bleiben.
Mein ältester Sohn wurde 1986 geboren, er wurde 35 Jahre alt. Er hat mit mir in Deutschland gelebt, solange ich dort gedient habe. Nach der Schule hat er eine Militärschule besucht, dann das Institut. Er hat immer davon geträumt, ein Offizier zu werden. Gestorben ist er am 27. Februar in der Nähe von Gostomel. Geblieben sind seine Frau und zwei Kinder, Jungs, zehn und vier Jahre alt. Das Schlimmste im Leben ist, seine eigenen Kinder zu begraben.
Mein jüngerer Sohn ist 1990 in Deutschland zur Welt gekommen. Am 26. Februar ist er in die Einberufungsstelle gegangen und hat sich in die Territorialverteidigung eingeschrieben und hat eine Waffe in die Hände genommen. Er hat auch zwei Kinder. Mama hat ihn gebeten, er soll auf sich aufpassen. Er hat ihr das versprochen und gesagt, dass er jetzt doch vier Kinder hat.
Später schreibt mir Viktor erneut. Wahrscheinlich ist das nun die Information, die er bekommen hat.
An dem Tag am Flughafen in Gostomel wurden russische Landetruppen eingeflogen, damit sie Kiew einnehmen. In dem Kampf wurden die Eliteeinheiten der ukrainischen Armee eingesetzt. Die Angriffe wurden abgewehrt, die Landetruppen zerstört.
Viktor schickt mir ein paar Fotos von sich und seinem Sohn in Deutschland.
Donnerstag, 10. März 2022, Berlin
Meine Cousine Julia ist vorgestern mit ihren beiden Kindern am Ostbahnhof angekommen, sie standen blass an der Information, waren müde und abgekämpft, aber sie lächelten. Die Kinder, sagt sie, verstehen nicht, warum wir weg mussten.
Heute geht sie in die Schule, die nahe an dem Ort ist, wo ich sie untergebracht habe und versucht, die Kinder dort anzumelden. Sie sagt, es ist wichtig, dass sie in eine Normalität kommen, in die Schule gehen.