Interview | infratest dimap - "Bei vielen Wählern dominieren die bundespolitischen Themen"
Wenn die Wahllokale am Sonntag um 18 Uhr schließen, liegt bereits die erste Prognose vor. Stefan Merz von infratest dimap erklärt, weshalb die Auszählung diesmal länger dauern könnte - und welchen Einfluss die Bundes- auf die Landespolitik hat.
rbb|24: Herr Merz, Sie beobachten als Wahlforscher die politische Stimmung. Die hat sich allein in den letzten Monaten gleich mehrfach gewandelt. Macht das Ihren Job schwerer? Ist die Wahl am Sonntag unberechenbarer als vorherige?
Stefan Merz: Auch in früheren Bundestagswahlkämpfen gab es im Laufe des Wahlkampfes viel Bewegung. Ungewöhnlich an diesem Wahlkampf ist, dass drei und nicht nur zwei Parteien Aussicht auf das Kanzleramt haben. Aber das erschwert nicht die Messung der politischen Stimmung durch wissenschaftlich fundierte Umfrageforschung.
Der Anteil der Briefwähler wird so hoch sein wie noch nie. Wie können Sie die bei Ihren Prognosen und Hochrechnungen berücksichtigen, wenn Sie die gar nicht vor den Wahllokalen befragen können?
Es gab auch in der Vergangenheit schon eine ganze Reihe an Wahlen mit sehr hohen Briefwahlanteilen. Unsere 18-Uhr-Prognose berücksichtigt immer mögliche Unterschiede zwischen Brief- und Urnenwählern.
Wie machen Sie das?
Dazu greifen wir auf Informationen aus früheren Wahlen und aus Vorwahlerhebungen zurück. Zudem ermitteln wir im Laufe des Wahlsonntags, wie viele Wahlberechtigte von der Briefwahl Gebrauch gemacht haben und wie sich die Briefwähler im Land verteilen. Diese Informationen fließen in unsere Prognosemodelle ein. Für die Hochrechnungen schicken wir zudem Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von uns in ausgewählte Briefwahlbezirke, damit sie uns unverzüglich die Auszählungsergebnisse melden. Diese fließen dann in unsere Hochrechnungen mit ein.
Ein Grund für die vielen Briefwähler sind unter anderem die Corona-Bedingungen: Wird sich Corona auch auf andere Weise auf den Wahltag und -abend auswirken?
Die Erfahrung bei den Wahlen im Frühjahr legen nahe, dass sich wegen der Corona-Pandemie der Einlauf der Ergebnisse gegenüber früheren Wahlen ein wenig verzögern wird, weil die überall geltenden Hygiene- und Abstandsregeln alle Prozesse etwas verlangsamen dürften. Zusätzlich kann auch der steigende Briefwahlanteil zu Verzögerungen bei der Auszählung führen.
Allerdings versuchen die meisten Kommunen und Wahlbehörden auf das größere Interesse an der Briefwahl mit einer Erhöhung der Anzahl an Briefwahlbezirken in ihrer Gemeinde zu reagieren, so dass sich die höhere Zahl an Briefwähler auf mehr Wahlbezirke verteilt. Die einzelnen Briefwahlbezirke werden daher nicht zwingend auch mehr Wähler enthalten und vielerorts keine längere Auszählungsdauer erforderlich machen.
In Berlin werden die Wählerinnen und Wähler gleich sechs Kreuze bei drei Wahlen und einem Volksentscheid setzen. Wie beeinflusst die gleichzeitige Bundestagswahl die Entscheidungen auf Landes- und Bezirksebene?
Wenn Wahlen am gleichen Tag mit der Bundestagswahl stattfinden, dominieren bei vielen Wählern die bundespolitischen Themen und Fragen den Entscheidungsprozess. Die bundespolitische Stimmung wirkt sich dann in der Regel deutlich stärker auf die Ergebnisse auf der Landes- oder kommunalen Ebene aus, als dies bei einem getrennten Wahltermin der Fall wäre.
Fast die ganze Legislaturperiode lagen die Grünen, teilweise auch die CDU, in den Berliner Meinungsumfragen in Führung. Auf den letzten Metern hat die SPD sich scheinbar in den Zahlen abgesetzt. Haben Sie eine Erklärung dafür?
Die wichtigste Erklärung hierfür ist sicherlich nicht in der Berliner Landespolitik zu suchen sondern im Bundestrend. Die bundespolitische Stimmung hat sich in den letzten Monaten für CDU und Grüne deutlich verschlechtert, für die SPD dagegen deutlich verbessert. Dies wirkt sich auch auf die Wahlabsichten zur Abgeordnetenhauswahl aus.
Vielen Dank für das Gespräch.
Das Gespräch führte John Hennig für rbb|24.