Fehlende Plätze, fehlendes Personal - Berlin steuert in eine vorweihnachtliche Flüchtlingskrise
In Berlin kommen nicht nur Geflüchtete aus der Ukraine an, sondern auch Asylsuchende aus anderen Ländern. Die Aufnahmekapazitäten sind am Limit, die Sozialverwaltung arbeitet am Anschlag. Weitere Unterkünfte sollen geschaffen werden. Von L. Schwarzer, A. Ulrich und S.Schöbel
Ruslan vergräbt die Hände in den Taschen seiner wattierten Winterjacke, seine Stimme klingt müde aber bestimmt. "Ich komme aus Poltawa. Viele haben ihre Wohnungen verloren." Berichten von der ukrainischen Front zufolge fallen immer wieder russische Raketen auf die Stadt südwestlich von Charkiw. Oft fällt der Strom aus, weil russische Truppen Kraftwerke beschießen. Die eigentliche Front ist keine 300 Kilometer entfernt.
Doppelstockbett im Großzelt
Wie Tausende Menschen seit Beginn des russischen Krieges gegen die Ukraine hat sich Ruslan nach Berlin gerettet. Eine Wohnung hat er hier allerdings auch nicht: Er steht am Terminal C des ehemaligen Flughafens Tegel. Wo früher in den Urlaub geflogen wurde, leben nun Geflüchtete. Über stillgelegten Gepäckbändern begrüßt ein Transparent im "Ukraine Ankunftszentrum TXL".
Eigentlich, so der ursprüngliche Plan, sollen die Geflüchteten hier nur registriert werden und maximal drei Nächte schlafen, bevor sie in Berlin unterkommen – sofern sie nicht ohnehin auf andere Bundesländer verteilt werden. Die Realität sieht anders aus, berichtet Ruslan. "Die Menschen warten schon seit mehreren Monaten, zwei oder drei, auf die Vermittlung in reguläre Wohnungen. Es gibt auch keine Warteliste."
Die Sozialverwaltung erklärt auf rbb-Nachfrage: Solch lange Wartzeiten seien die Ausnahme – zwei bis drei Wochen aber seien schon normal. Und interne Zahlen der Verwaltung zeigen: Mussten im September lediglich 125 Personen länger als drei Tage in Tegel übernachten, bevor sie in eine Unterkunft vermittelt wurden, waren es nun in der Woche vor Weihnachten bereits fast 2.200 Personen. Stattdessen leben die Menschen zwischen Stellwänden und schlafen in Doppelstockbetten.
Ankunftszentrum wird erweitert, Tempelhof bekommt Container
Auf dem ehemaligen Rollfeld werden bereits weitere Unterkünfte in Leichtbauhallen errichtet. Bis zu 3.200 weitere Plätze sollen so entstehen. Dass das nicht reichen wird, weiß man schon jetzt. Jeden Tag kommen noch immer rund 200 Flüchtlinge in Berlin an, sagt Sascha Langenbach, der Sprecher des Landesamtes für Flüchtlingsangelegenheiten (LAF): "Das sind 6.000 Menschen in einem Monat." In Tegel wird der Platz knapp, weil die ebenfalls genutzten Terminals A und B Anfang des Jahres freigezogen werden müssen, hier soll die Sanierung für den Einzug der Hochschule für Technik beginnen. Demnächst sollen deswegen in Containern, die in Hangars des alten Flughafens Tempelhof aufgebaut werden, weitere 800 bis 900 Plätze entstehen.
Es ist ein täglicher Kampf gegen die Zeit für die Berliner Behörden: Sozialverwaltung und das Landesamt schaffen gemeinsam mit Flüchtlingsorganisationen, sozialen Trägern, und Bezirken provisorische Unterkünfte, stets in dem Wissen, dass es nicht reichen wird, weil täglich mehr Menschen kommen. Fast 30.000 Unterkunftsplätze wurden laut Senat bislang geschaffen – das große Ankunftszentrum auf dem ehemaligen Flughafen Tegel und auf dem Gelände des LAF im Berliner Norden noch gar nicht mitgerechnet. Die Auslastung überall lag zuletzt bei über 99 Prozent. Bis zu 10.000 weitere Plätze sollten laut der Berliner Sozialsenatorin Katja Kipping (Linke) bis zum Jahresende dazukommen. Stand jetzt hat man etwas mehr als 8.000.
Flüchtlingsinitiativen schlagen Alarm
"Land unter." So beschreibt Anne-Marie Braun vom Verein "Schöneberg hilft" die Lage bei der Unterbringung von Geflüchteten. Zusammen mit ihrem Team bietet sie Beratung an, hilft bei Behördengängen, beim Ausfüllen der vielen Formulare. 95 Prozent der Menschen würden derzeit nach einer Unterkunft fragen. Beim Verein "Schöneberg hilft" kämen immer öfter Klagen aus den Massenunterkünften an, erklärt Braun. "'Hilfe, wir sind schon drei Wochen hier!', 'Hilfe, hier brennt 24 Stunden am Tag Licht!', 'Hilfe, ich habe Morbus Crohn, Diabetes!', 'Hilfe, ich habe vier Kinder!' - Das ist einfach eine scheußliche Situation."
Auch Ruslans Schilderung in Tegel klingt wenig einladend. "Ich wohne hier in einem Zelt", sagt er. "Es ist sehr kalt, wir haben viele Probleme mit der Heizung und Heizgeräten, die nicht rechtzeitig repariert werden können." In den Zelten sinke die Temperatur bisweilen auf vier Grad Celsius. "Wir müssten warm angezogen schlafen." Einige Menschen seien deswegen inzwischen krank.
Ärger mit LAF-Sicherheitsdienst
Deutlich dramatischer aber ist offenbar die Lage bei der Erstaufnahmestelle für Asylsuchende in Reinickendorf – nicht nur wegen des Platzmangels. Hier, nur wenige Kilometer vom Flughafen Tegel entfernt, standen kürzlich der Zoll und die Bundespolizei auf der Matte. Der private Sicherheitsdienst auf dem Gelände an der Oranienburger Straße wurde überprüft, vordergründig ging es um die Bekämpfung von Schwarzarbeit.
Tatsächlich aber haben Ermittler die Sicherheitsleute beim LAF schon länger im Visier: Es geht um den Vorwurf der Gewalt gegen Asylsuchende, um Erpressung, Nötigung, Zwangsprostitution. Unter anderem sollen einzelne Sicherheitsleute Termine beim LAF und Schlafplätze gegen Geld verkauft haben. Kipping verspricht Aufklärung und bittet um anonyme Hinweise.
Personal für Registrierung fehlt
Entstanden ist die Lage wohl auch, weil das LAF mit der Registrierung der Asylsuchenden nicht nachkommt. Personal war davor schon knapp, durch zahlreiche Krankmeldungen hat sich die Lage aber nochmal verschärft. Der "Stau" bei der Registrierung ist inzwischen bei 1.800 Personen angekommen. Sozialsenatorin Kipping hat nun per Brief alle Mitarbeitenden ihrer Verwaltung gebeten, wenn möglich freiwillig im LAF auszuhelfen. Sie selbst übernahm nach einer Einarbeitung am Mittwoch die Spätschicht bis 22 Uhr.
Wie schwierig selbst vermeintliche Kleinigkeiten sind, erlebte die studierte Slawistin dann auch gleich selbst: Bei einer afghanischen Familie vertippte sich die Linken-Politikerin gleich mal beim Namen. "Ganz schön aufregend, weil man mit einem falschen Eintrag über das Schicksal von Leuten entscheidet", sagt sie. So hängen an der Registratur unter anderem die Verteilung auf Unterkünfte, in Berlin aber auch in anderen Bundesländern, und natürlich die Sozialleistungen. Ein bürokratischer Akt, der unter Hochdruck richtig gemacht werden muss. Und trotzdem freundlich, erklärt LAF-Sachbearbeiterin Irene Pfeffer. "Es geht um Menschlichkeit. Dass man die Leute so behandelt, wie man selbst behandelt werden möchte."
Sendung: rbb24 Inforadio, 21.12.2022, 20:20 Uhr
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