Berichte aus der Ukraine - "Ich will nicht für die Ukraine sterben, ich will für sie leben!"
Plötzlich leben die Menschen in der Ukraine im Krieg. Eine Lehrerin harrt voller Angst auf dem Land aus. Ein Fabrikarbeiter baut Molotow-Cocktails. Ein Chirurg arbeitet seit sechs Tagen ohne Pause. Sieben Protokolle aus der Ukraine.
Update: Der Interviewpartner Serhij S. (39) ist am 23. Juni 2022 bei Kampfhandlungen gegen die russische Armee gefallen. Der Leichnam konnte nicht geborgen werden.
Pjotr (58), leitender Unfallchirurg des Militärkrankenhauses Kiew, Interview am Dienstag (01.03.22)
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Ich bin der leitende Unfallchirurg des Militärkrankenhauses in Kiew und ich habe sechs Tage durchgearbeitet und die Verletzten aufgenommen. Ich bin am Donnerstag durch den Lärm der Explosionen aufgewacht und direkt zum Krankenhaus gefahren. Gestern hatte ich Geburtstag, ich bin 58 geworden.
Nein, ich war nicht zu Hause. Wir sind hier isoliert und abends herrscht Sperrstunde. Wir schlafen, waschen uns und essen im Krankenhaus. Ich hätte am Tage zu meiner Familie fahren können. Ich habe zwei Kinder, 13 und 8 Jahre alt, aber ich konnte nicht, ich hatte kein Benzin. Meine Kinder und meine Frau sind zu Hause und sitzen im Keller.
Es kommen regelmäßig Verwundete. Das sind harte Momente. Wir warten auf die russischen Fallschirmjäger. Meine Freunde arbeiten im Hospital Nr. 17, das durch die Fallschirmjäger beschossen wurde. Es wurden auch andere Objekte in der Stadt beschossen, heute auch der Fernsehturm. Seitdem gibt es kein Fernsehen mehr. Wir sind gut vorbereitet. Wir haben eine Notfallstation, wir haben einen Schockraum und eine Intensivstation. Der Eingang zur Ersten-Hilfe-Station ist mit Sandsäcken verbarrikadiert.
Es ist Krieg und wie das im Krieg so ist, fehlt es an einigem: an Verbandsmaterial generell, an Personal sowieso und speziellem Verbandsmaterial, an den unfallchirurgischen Hilfsmitteln, wie z.B. Fixateurs externes. Nicht nur unser Krankenhaus braucht humanitäre Hilfe, aber die Frage ist wie können wir erreicht werden. Wie wir hören ist der Zugang zur Stadt vom Westen her abgeschnitten und die Flughäfen sind zerbombt. Am schlimmsten ist das Unbekannte bei der jetzigen Situation, das Nicht-Wissen darüber, was morgen sein wird, wo die Gefahr lauert und wann die nächste Explosion kommt. Aber wir wissen, was zu tun ist.
Ob man die Kinder nochmal sieht, ob man die Eltern nochmal sieht. Ich hätte sie alle nochmal sehen können oder auch wegbringen können, bin aber ins Krankenhaus gefahren. Ich kann meine Eltern nicht hier lassen, wer sorgt für sie, wer bringt ihnen das Essen.
Zu Verletzungen: Wir haben hauptsächlich mit traumatisierten und kranken Verletzten zu tun. Heute habe ich folgende Verletzungen behandelt: Splitterverletzung des Herzmuskels, Splitterverletzungen der Gliedmaßen, der Wirbelsäule, Verletzungen der Bauchhöhle.
Julia T. (39), Lehrerin, Interview am Samstag (26.02.2022)
Wir sind momentan im Umland von Kyjiw (Kiew) und werden auch bis auf Weiteres hier bleiben. Denn in eine Richtung ist die Brücke vermint und gesprengt worden, um das Vorrücken des Feindes zu verhindern. Auf der anderen Seite ist ein Wasserkraftwerk, das zum strategischen Objekt deklariert wurde und seine ganze Umgebung ist abgesperrt. Noch leben wir hier unter akzeptablen Bedingungen. Wir haben auch einen Keller, also sogar zwei Keller. Wir haben einige Vorräte, Elektrizität, Internet und Telefon.
Bis jetzt haben wir im Erdgeschoss geschlafen, doch wir haben auch den Keller vorbereitet, Matratzen ausgelegt, Decken, Trinkwasser deponiert, solche Sachen. Vergangene Nacht um 22 Uhr wurde der Lärm so stark, dass wir beschlossen haben, im Keller zu schlafen. Die Kinder und alle anderen haben sich schlafen gelegt, bis ich um zwei Uhr wieder hoch ging, weil mir klar wurde, dass die Kämpfe nicht ganz so nah sind.
Immer hörst du diese Explosionen und du weißt nicht, was passiert da genau und wo... Es gibt einen Telegram-Kanal, der regelmäßig sehr aktuelle Fakten und Informationen verteilt. Zwei von uns folgen vor allem dem Kanal aufmerksam, weil die TV-Nachrichten erst mit einiger Verspätung berichten.
Die Patentante meiner Kinder ist auch in ihrem Haus hier in der Ukraine geblieben. Aber das steht in Kiew, also sind sie näher an den Kämpfen und sie haben große Angst. Überall hört man den Lärm der Kämpfe, man sieht die Panzer. Sie sind verzweifelt und fast in Panik: Sollen sie jetzt abreisen oder doch nicht? Sie wissen aber, dass wenn sie jetzt abreisen, dann können sie nicht wieder zurück. Niemand ist sicher, wohin man fahren und wie es weitergehen soll.
Ihor K. (36), Cutter für Dokumentar- und Spielfilme, Interview am Samstag (26.02.2022)
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Ich sammle Videos von allen Einberufenen, von Militärtechnik und so weiter. Mein Freund sammelt Videos aus allen europäischen Städten von all den Demos und Aktionen, Protesten mit Aufrufen und ukrainischen Flaggen. Damit wollen wir die Stimmung hier im Land verbessern. Wir übernachten hier in Kyjiw im Bunker eines Krankenhauses mit Krankenschwestern, und sie schimpfen auf Europa und die Nato, wiederholen Infos der russischen Propaganda darüber, dass alle uns verlassen haben und alles zu spät ist.
Das Wichtigste jetzt ist, dass Leute nicht allein bleiben, allein mit ihren Gedanken. Das ist so ein Zustand, in dem man sich sehr wünscht unter Leuten zu sein. Am Anfang, in den ersten Tagen, hatte ich ganz schlimme Panikattacken. Ich glaube, alle hatten sie. Ich kann über mich sagen, dass man sich manchmal einfach hinlegen und nur weinen möchte, weil man Angst hat und machtlos ist. Und dann mit der Zeit gewöhnst du dich einfach an diese Sirenen, an die Explosionen, an die irgendwo vorbeifliegenden Flugzeuge. Du kannst den Gedanken an den wahrscheinlichen eigenen Tod inzwischen leichter hinnehmen.
Serhij S. (39), Kiew, Fabrikarbeiter, Interview am Samstag (26.02.2022)
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Ich bin in Kyjiw, im Bezirk Obolon, mit meinem 16 Jahre alten Sohn und meiner Partnerin. Wir haben uns erst vor zwei Wochen bei einer Premiere kennengelernt. Als am Donnerstag der Krieg ausbrach, habe ich ihr einen Heiratsantrag gemacht. Sie hat 'Ja' gesagt.
Am Freitag haben wir im Keller geschlafen, aber am heutigen Samstag haben wir beschlossen, hier in der Wohnung im 11. Stock zu bleiben. Im Moment spüre ich Zorn, Aggression und Hass. Das Stadium von Angst und Machtlosigkeit habe ich irgendwie schon hinter mir gelassen. Angst habe ich um meinen 16-jährigen Sohn und um meine Freundin. Aber ich versuche, die Angst zu bewältigen. Das klappt irgendwie.
Ich bin zum sogenannten Verteidigungspunkt hier vor Ort gegangen, um eine Waffe zu bekommen. Aber ich habe nicht in der Armee gedient, man gibt mir deswegen momentan keine Waffe.
Also bereiten wir Molotowcocktails vor, um den Besetzern das Ganze hier maximal zur Hölle zu machen — dafür setze ich mich ein. Das geht mir heute durch den Kopf: Ich will nicht für die Ukraine sterben, ich will für sie leben!
Ich habe nicht an Flucht gedacht, wohin sollen wir fliehen? Ich liebe mein Land, ich liebe Kyjiw.
Oksana S. (47), Ärztin, Interview am Samstag (26.02.2022)
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Ich bin Ärztin und arbeite am Institut für Onkologie. Als stellvertretende Direktorin bin ich dort verantwortlich für die Organisation des medizinischen Dienstes, vor allem für die Koordination der Ärzte. Bis gestern habe ich mich um krebskranke Patienten gekümmert. Jetzt bereiten wir uns darauf vor, Verwundete aus der Zivilbevölkerung aufzunehmen. Wir sind außerhalb der Stadt Kyjiw, an einem Ort, den ich nicht genauer benennen werde.
Wir hatten hier 600 Krebspatienten, die meisten haben wir entlassen. Circa 100 Patienten sind geblieben, hauptsächlich deshalb, weil ihre Verwandten sie nicht abholen können.
Die ganze Belegschaft arbeitet in einem sehr kräftezehrenden Modus. Es ist schwierig, überhaupt hierher zu kommen. Viele Kollegen wohnen weiter weg, außerhalb der Stadt. An der Strecke gibt es viel Beschuss, man kommt kaum durch. Es gibt die Ausgangssperre, keine öffentlichen Verkehrsmittel, die Mitarbeiter sind zwei bis drei Tage am Stück im Dienst. Mein Mann ist bei mir, die Kinder haben wir an einen sichereren Ort gebracht. Sie sind noch nicht volljährig.
Von drei bis sechs Uhr morgens gab es bei uns Luftalarm und die Sirenen heulten, wir mussten alle evakuieren und uns im Keller verstecken, das war wirklich schwer. Wir haben an Krebs erkrankte Kinder, die eine Transplantation hinter sich haben. Die transportieren wir nicht aus dem Keller zurück auf die Station, wir haben dort im Keller die Versorgung organisiert. Sie können sich ja vorstellen, wie unsere Keller ausgestattet sind. Zu sehen, wie die Kinder da liegen, ist eine Katastrophe. Sie leiden ja ohnehin, und wir können sie nicht richtig beschützen oder sie dort unten angemessen medizinisch versorgen.
Die Lage hier ist kritisch. Die ganze Nacht gab es heftige Kämpfe, am Morgen hatten wir viele Verwundete. Wir haben einen schwer Verwundeten und einen Toten. Das war der erste Todesfall. Er starb in meinen Armen. Als der Junge hergebracht wurde, war er noch am Leben. Aber es war aussichtslos, der Schuss ging in seinen Hinterkopf. Wir konnten ihn nicht retten.
Und jetzt warten wir auf die Nacht. Es gibt Berichte über Sabotagegruppen. Russen ziehen Uniformen des ukrainischen Militärs oder der ukrainischen Polizei an und schießen auf unsere Leute. Die Bürger haben sich selbst organisiert, wir haben nicht genug Waffen, es gibt Schlangen vor den Militärkommissariaten.
Wir warten darauf, dass wir Ausrüstung bekommen, vor allem Schutzwesten. Wir haben einen Hilfepunkt eingerichtet für die medizinische Ersthilfe. Es gibt ein Krankenhaus, das eine Aufnahmestelle hat.
Die Taktik von Russland hat sich seit dem Zweiten Weltkrieg nicht geändert. Sie schicken Kanonenfutter, so viele Soldaten, sie schicken mehr und mehr Kräfte. Sie haben außerdem sehr viele Waffen, die einzige Hoffnung ist, dass sie nicht genug Treibstoff haben.
Es ist sehr beängstigend, sie sind überall, sie sind viele. In Anbetracht der russischen Taktik, strategisch wichtige Objekte wie beispielsweise auch Atomkraftwerke einzunehmen, müsste Europa wenigstens an sich denken, wenn schon nicht an uns. Sollte ein Atomkraftwerk explodieren, wird nicht nur das ukrainische Volk leiden.
Sergej P., Redakteur, Interview am Samstag (26.02.2022)
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Ich bin mit meiner Familie in Kyjiw geblieben. Ich habe eine Frau und drei Kinder. Mein Sohn ist acht Jahre alt, die Zwillinge sind zweieinhalb Jahre alt. Wir haben gehofft, dass es nicht zu einer solchen Eskalation kommt. Es ist auch schwierig, Kyjiw zu verlassen, mit drei Kindern ist es noch schwieriger. Wir haben beschlossen, dass es sicherer ist, hier zu bleiben, vorerst, also sind wir jetzt hier.
Der Achtjährige hat Angst. Er fragt, warum wir angegriffen werden. Heute Nacht hat er die lauten Geräusche gehört, er hat geweint. Die Kleinen bekommen das Ganze noch nicht so richtig mit.
Nachts hatten wir so viel Angst, weil wir Explosionen und Schüsse hörten. Wir schalteten die Telefone aus, weil wir Angst vor einer Geolokalisierung hatten. Wir saßen ganz still, waren angespannt. Am Morgen haben wir dann die Nachricht gehört, dass eine russische Militärkolonne auf dem Weg nach Kyjiw bombardiert wurde. Eine Frau aus dem Luftschutzkeller erzählte mir, dass an einigen Stellen Fleischstücke und Granaten herumlagen. Es ist ein echter Krieg. Es ist einfach surreal, aber wir erleben es real.
Wir hatten Glück. Es gibt einen Luftschutzbunker im Nachbarhaus. Nun, seit dem zweiten Weltkrieg gab es ja keinen Krieg, und er wurde umgenutzt. Es gab eine Turnhalle und einen Fitnessclub. Er ist in gutem Zustand, mit guten Böden, Toiletten, mehrere Räume für Kinder. Nur die Spiegel sind gefährlich. Wenn es Raketenangriffe gibt, können sie wegfliegen. Wir haben alle abgeklebt, damit die Splitter niemanden verletzten.
Es gibt keine Panik, wir organisieren uns, für die Belüftung, für die Reinigung. Heute hat eine Frau Suppe gekocht, wir haben ein paar Vorräte. Freunde haben Sandwichtes mitgebracht, um irgendwie über die Runden zu kommen. Wir können hier Tee und Kaffee machen und haben Wasser.
Das Einzige, was wir nicht wissen, ist, was uns in naher Zukunft erwartet. Welche weiteren Maßnahmen Russland oder Putin ergreifen werden oder ob der Krieg auf diplomatischem Wege beendet werden kann. Es ist einfach ein Verrückter, der beschlossen hat, die Ukraine zu überfallen.
Zhanna K. (40), bildende Künstlerin, Interview am Samstag (26.02.2022)
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Es geht uns soweit gut, aber die Situation ist unberechenbar. Hier in Kyjiw ist die Angst groß vor Saboteuren. Ich habe von einer sehr bekannten Band namens "Boombox" gehört, dass sie geschlossen in den Krieg gezogen sind.
Ich kann hier nicht weg, meine Mutter ist 75 Jahre alt. Meine Tante ist auch hier. Auch meine Schwester hat gesagt, dass sie nirgendwo mehr hinfahren wird. Und wenn Putin eine Atombombe wirft, dann hilft uns die Flucht nach Polen auch nichts mehr.
Die Interviews führte Natalija Yefimkina.
Produktion: Anastasia Pisklyukova
Ton, Mischung: Andreas Hildebrand
Deutsche Audio-Stimme (bei Pjotr): Charlotte Puder
Schnitt: Lucia Gerhard
Übersetzungen und Korrekturen: Jörg Silbermann, Yevgeniya Sergeyeva, Anastasia Pisklyukova, Maria Bobkov, Nora Erdmann, Monika Hildebrand
Übersetzungen aus dem Ukrainischen: Yevgeniya Sergeyeva