Einnahmen aus Parkgebühren und Touristenticket - Experten bezweifeln rot-grün-rote Finanzreform des ÖPNV
Bereits jetzt gibt das Land Berlin Milliarden aus, um seinen ÖPNV zu stützen. Die neue Regierungskoalition verspricht nun eine neue Finanzierungsquelle, aus Parkgebühren und Touristentickets. Experten melden Zweifel an. Von Sebastian Schöbel
Auf den ersten Blick verspricht der rot-grün-rote Koalitionsvertrag so ziemlich alles, was man sich für den Öffentlichen Personennahverkehr in Berlin wünscht: nämlich mehr von allem. Bau der neuen S-Bahn-Linie 21 und die Wiederbelebung der Siemensbahn, die Verlängerung von fünf U-Bahn-Linien, über ein Dutzend neue Straßenbahnstrecken, mehr Busse in bislang untererschlossenen Gebieten, 5-Minuten-Takt in der Innen- und 10-Minuten-Takt in der Außenstadt, mehr Park&Ride und Fahrradparkhäuser - und das alles natürlich noch schneller als bisher.
"Es steht alles Richtige drin", sagt Christian Böttger, Verkehrsforscher der Hochschule für Technik und Wirtschaft (HTW) Berlin. Doch dann schickt er ein großes Aber hinterher: "Wenn man sich die unbefriedigende, jämmerliche Umsetzungsleistung aus dem letzten Koalitionsvertrag anschaut, muss man sich fragen: Woher soll es kommen, dass alles besser wird?"
Touristen und Parker sollen zahlen
Dass die Verkehrspolitik in den vergangenen fünf Jahren einiges zu wünschen übriggelassen hat, wussten SPD, Grüne und Linke natürlich - sie waren ja verantwortlich dafür. Für die nächsten fünf Jahre stellen sie deswegen eine echte Neuerung in Aussicht: Mehr Geld für den ÖPNV aus alternativen Finanzierungsquellen. "Dritte Finanzierungssäule" haben sie es genannt. Im Kern geht es um drei Bereiche, in denen Gelder für den ÖPNV generiert werden sollen: höhere Kurzzeitparkgebühren, teurere Anwohnerparkausweise und ein verpflichtendes Gästeticket für alle Berlin-Touristen.
"Als ernsthafter Finanzierungsbeitrag hilft es natürlich nicht", sagt Verkehrsforscher Böttger. "Weil das, was man auf der Wunschseite aufgeschrieben hat an Investitionsprojekten, um ein Vielfaches größer ist, und das lässt sich nicht mit diesen paar Mehreinnahmen finanzieren."
Der ÖPNV verdient zu wenig
Laut Senat betrugen die Jahreskosten für den gesamten Berliner ÖPNV im Jahr 2019 rund 2,7 Milliarden Euro, wie die Verkehrsverwaltung auf rbb-Nachfrage mitteilte. "Die Fahrgelderlöse, die zur Finanzierung des ÖPNV beigetragen haben, betrugen im Jahr 2019 circa 1,5 Milliarden Euro." Heißt auch: 44 Prozent der Einnahmen wurden nicht erwirtschaftet, sondern stammten aus öffentlichen Mitteln.
Den gesamten Investitionsbedarf beim ÖPNV bis 2035 schätzt der Senat auf 35 Milliarden Euro. Eine Summe, die über Ticketverkäufe allein nicht gestemmt werden kann - und durch die Zuschüsse aus Parkgebühren und Touristentickets nur marginal gedrückt werden kann. Laut einer aktuellen Studie würde das nämlich im Jahr nur etwa 530 Millionen Euro einspielen - höchstens.
Böttger geht zudem davon aus, dass Versprechen wie die Senkung der Ticketpreise für BerlinPass-Inhaber:innen, Senior:innen und Ehrenamtler:innen die Einnahmen der dritten Finanzierungssäule gleich wieder aufzehren werden. Vollständig einbehalten könnte das Land die Gelder der "dritten Finanzierungssäule" ohnehin nicht. "Ein festzulegender Teil der Einnahmen fließt den Bezirken mit Parkraumbewirtschaftung zur eigenen Verwendung zu", heißt es im Koalitionsvertrag.
Grüne wollten Citymaut, Linke Bürger:innenticket
Dass die dritte Finanzierungssäule für den ÖPNV nicht reicht, weiß man auch in der geplanten Koalition. "Wir hatten noch mehr im Portfolio", sagt Oda Hassepass von den Grünen. "Wir wollten noch gerne eine Citymaut und das Umlage-ÖPNV-Ticket, das haben wir vorgeschlagen, aber es wurde abgelehnt. Jetzt müssen wir mit dieser dritten Finanzierungssäule erstmal weiterarbeiten."
Linken-Politiker Kristian Ronneburg bringt derweil ein weiteres Finanzierungsinstrument ins Gespräch: Ein ÖPNV-Ticket für alle Berlinerinnen und Berliner – das dann aber auch alle bezahlen müssten. Schnell werde das aber nicht kommen. "Ein Allgemeines Bürger:innenticket werden wir erst dann umsetzen können, wenn im Innen- und Außenbereich gleichwertige Verhältnisse geschaffen sind."
Tilmann Heuser vom Bund für Umwelt und Naturschutz wiederum bezweifelt ganz grundsätzlich, dass die dritte ÖPNV-Finanzierungssäule überhaupt stehen kann. "Die Parkraumbewirtschaftung ist nicht zur Finanzierung des ÖPNV gedacht. Sondern sie ist der Preis für die Autos, die öffentliches Straßenland nutzen."
Der Verkehrsexperte des Berliner Fahrgastverbandes IGEB, Jens Wieseke,
zweifelt an der Langlebigkeit dieser Konstruktion. "Beim Parkticket bin
ich skeptischer, denn wenn die Leute umsteigen und weniger Autos haben,
dann wird diese Einnahmesäule natürlich zurückgehen." Der IGEB bringt
deswegen eine Beteiligung der Gewerbe an der ÖPNV-Finanzierung ins
Spiel, nach dem Vorbild Frankreichs.
Zumal die finanzielle
Beteiligung des Bundes bei einigen Investitionen alles andere als
gesichert sei, so Wieseke. "Bei den U-Bahn-Strecken bin ich sehr, sehr
skeptisch, vor allem bei denen am Stadtrand." So sei unklar, ob die
geplante Verlängerung der U7 Richtung Heerstraße "wirtschaftlich
überhaupt darstellbar ist", so Wieseke. "Da ist die Straßenbahn
wesentlich effizienter."
"Berlin bekommt es eben nicht hin"
Für Verkehrsforscher Böttger sind die Zahlenspiele rund um die ÖPNV-Finanzierung aber ohnehin Zukunftsmusik. Scheitern könne man nämlich nicht nur am Geld: Ein deutlich größeres Problem beim ÖPNV-Ausbau sei der Personalmangel. "Berlin ist - auch weil der öffentliche Dienst nicht zu Unrecht einen besonders schlechten Ruf hat - besonders schlimm davon betroffen, dass man keine Fachleute findet", so Böttger.
"Und man wird aus diesem Mangel heraus Probleme habe, Projekte umzusetzen." Die Lösung könne nur eine Verwaltungsreform bringen, sagt der Experte. "Busspuren zu bauen oder eine Ampelvorrangschaltung sind keine Raketenwissenschaft. Aber Berlin bekommt es eben nicht hin."
Sendung: Abendschau, 1.12.21, 19:30 Uhr
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