Interview | Wahlforscher Heiko Giebler - "Menschen werden jetzt zur Wahl gehen, die sonst nicht wählen würden"

Do 23.09.21 | 07:33 Uhr
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Wahlplakate verschiedener Parteien, sowohl für die Bundestagswahl als auch für das Abgeordnetenhaus, stehen im August 2021 in Prenzlauer Berg.
Bild: dpa/Annette Riedl

Der Politikwissenschaftler Heiko Giebler erwartet für den Superwahltag in Berlin eine hohe Wahlbeteiligung. Seine Stimme unterschiedlichen Parteien zu geben, kann dabei seiner Einschätzung nach durchaus Sinn machen.

rbb|24: Wir haben am 26. September in Berlin - mit der Abstimmung über den Volksentscheid - eine vierfache Wahl. So viele Wahlgänge auf einmal gab es noch nie. Die Bundestagswahl wird wohl alle anderen Wahlgänge überstrahlen. Aber was bedeutet das für den Ausgang der Wahlen auf Bezirks- und Landesebene?

Heiko Giebler: Der größte Effekt ist sicher, dass sich die Wahlbeteiligung extrem erhöht. Das sehen wir eigentlich immer, wenn eine Hauptwahl gleichzeitig mit Nebenwahlen wie Landes- oder Bezirkswahlen stattfindet. Bei der Bundestagswahl ist die Wahlbeteiligung immer noch relativ hoch. Menschen werden jetzt an der Abgeordnetenhauswahl oder auch am Volksentscheid teilnehmen, die sonst vielleicht nicht wählen würden. Das ist erstmal eine gute Sache, wenn man über die Demokratie nachdenkt.

Die Menschen, die sozusagen zusätzlich an der Abgeordnetenhauswahl teilnehmen, unterscheiden sich von denen, die immer zur Abgeordnetenhauswahl gehen. Diese zusätzlichen Wähler und Wählerinnen sind in der Regel Menschen, die sich weniger stark für Politik interessieren und auch weniger stabile Parteibindungen haben.

Niemand kann in die Glaskugel schauen: Aber welche Parteien könnten denn ihrer Einschätzung nach von der steigenden Wahlbeteiligung profitieren?

In der Regel Parteien, die auch interessant sind für sogenannte ungebundene Wählerinnen und Wähler und eben nicht nur auf ihre Stammwähler zurückgreifen. Das sind in der Regel durchaus auch die einstmals sehr großen, inzwischen etwas größeren Parteien, also vor allen Dingen die CDU oder die SPD. Es hängt aber sicherlich auch von Trends ab, wie sie gerade auf der Bundesebene laufen.

Die Mitte-Parteien können also eher mit einem Zustrom rechnen als die Parteien am Rand des politischen Spektrums?

Das sagt uns zumindest die Forschung. Normalerweise läuft es aber immer andersrum: Wenn nur eine Nebenwahl – wie die Wahl zum Abgeordnetenhaus - stattfindet, dann nehmen auch Personen teil, um den Großparteien oder Regierungsparteien so einen kleinen Denkzettel zu verpassen. Das läuft dann meistens zugunsten von Parteien in der Opposition und auch Parteien am ideologischen Rand des Spektrums. Klassisches Beispiel sind dafür die Europawahlen, wo oft auch relativ extreme Splitterparteien relativ gut abschneiden. Diese Effekte sollten sich eigentlich - zumindest, wenn sich das fortsetzt, was die Forschung zu dieser Thematik sagt - jetzt in Berlin eben nicht zeigen.

Die Spitzenkandidaten und -kandidatinnen sind bei der Abgeordnetenhauswahl mit einer Ausnahme von Franziska Giffey relativ unbekannt. Welche Rolle spielen sie bei einer Landtagswahl?

Schon seit vielen Jahren sehen wir den Trend der Personalisierung in der Politik. Die Kandidaten und Kandidatinnen spielen eine immer größere Rolle und das gilt im Prinzip für alle politischen Ebenen. Aber wenn man Bundestagswahl und Landtagswahl miteinander vergleicht, sind die Spitzenkandidatinnen und Kandidaten auf der Bundesebene immer viel, viel bekannter. Dann kann das auch - sowohl im positiven Sinne als auch im negativen Sinn - die Wahlentscheidung stärker beeinflussen. Bei Landtagswahlen sind meistens nur einzelne Kandidatinnen wirklich bekannt.

Setzt sich das dann nach unten fort, dass bei einer lokalen Wahl wie der zur Bezirksverordnetenversammlung (BVV), wo die Kandidaten noch unbekannter sind, die Partei eine wichtigere Rolle für die Wahlentscheidung spielt?

Wenn man an dieser Wahl teilnehmen möchte, dann muss man als Bürgerin oder Bürger irgendwie eine sinnvolle Entscheidung zu treffen. Oftmals kennt man die einzelnen Kandidaten und Kandidatinnen nicht. Da ist natürlich die Partei, für die eine Person antritt, ein einfacher Hinweis in welche Richtung es dann auch inhaltlich gehen wird. Man könnte schon sagen, je geringer der Informationsstand über die zur Wahl stehenden Personen ist, desto eher spielt dann die Parteizugehörigkeit der kandidierenden Personen eine Rolle.

Das Stimmensplitting zwischen Erst- und Zweitstimme ist ein bekanntes und gut dokumentiertes Phänomen. Vor allem Wähler und Wählerinnen kleinerer Parteien wählen häufig mit der Erststimme eine Person, die einer anderen Partei angehört. Kommt es häufig vor, dass auf den verschiedenen Ebenen bunt durch den Regenbogen gewählt wird?

Es kommt durchaus vor, aber es geht wohl nie durch das ganze komplette Spektrum. Jede dieser Ebenen bringt auch bestimmte politische Inhalte und Fragen mit. Es gibt auch bei der Abgeordnetenhauswahl bestimmte Fragen, die sind natürlich auf der Bundesebene völlig irrelevant. Und auch andersherum kann man natürlich argumentieren, im Berliner Abgeordnetenhaus wird nicht die deutsche Außenpolitik entschieden. Wenn mir solche Themen wichtig sind, dann kann sich natürlich auch die Wahlentscheidung zwischen den Ebenen unterscheiden.

Trotzdem würde man vermuten, dass man sich eher im selben politischen Lager bewegt. Dazu kommen aber auch noch strategische Fragen. Es kann natürlich auch sein, dass man unbedingt Partei X in der Berliner Landesregierung haben will und deswegen gibt man dieser Partei die Stimme. Gleichzeitig möchte man aber vielleicht bei der Bundestagswahl der Partei die Stimme geben, der man tatsächlich ideologisch am nächsten steht. So kommt es auch zu Unterschieden im Wahlverhalten.

Zur Person

Dr. Heiko Giebler (Quelle: David Ausserhofer)
David Ausserhofer

Heiko Giebler ist Politikwissenschaftler und forscht an der FU Berlin (Exzellenzcluster SCRIPTS) und am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB).

Kann ein durchschnittlich informierter Wähler oder eine durchschnittlich informierte Wählerin überhaupt durchblicken, auf welcher politischen Ebene – also Bezirk, Land und Bund – eine Entscheidung getroffen wird?

Die Unterscheidung der Kompetenzen zwischen Bund und Land funktioniert bei vielen noch relativ gut – vor allem bei Themen, für die man sich interessiert. Wer etwa Kinder im schulpflichtigen Alter hat, weiß wohl, dass die Bildungspolitik auf Landesebene entschieden wird. Andererseits ist es gerade im Stadtstaat Berlin nicht immer einfach zu verstehen, was macht genau die Bezirksverordnetenversammlung im Vergleich zum Abgeordnetenhaus? Aber es ist schon so, dass die Parteien versuchen mit ihrer Themensetzung klarzumachen, was eigentlich auf dieser Ebene entschieden werden kann.

Wenn man beispielsweise an die Drogenproblematik im Görlitzer Park in Kreuzberg denkt, dann vermischen sich dort die verschiedenen Ebenen: Einerseits ist die Drogenpolitik Bundessache, die Polizei ist Landessache und der Park selbst ist Bezirkssache. Wer eine solche themengetriebene Wahlentscheidung treffen will, verliert sich doch leicht im Kompetenzwirrwarr?

Daran kann man gut die Verflechtung der verschiedenen Ebenen sehen. Man muss gezwungenermaßen schauen, was die Lösungsansätze der Parteien auf den unterschiedlichen Ebenen sind und wo Lösungsansätze ineinandergreifen. Letztendlich treten ja dann doch größtenteils die gleichen Parteien auf den verschiedenen Ebenen an und natürlich macht es Sinn, eine Partei für sich zu finden, die die eigenen Interessen auf allen Ebenen vertreten kann.

Vielen Dank für das Gespräch.

 

Das Interview führte Dominik Ritter-Wurnig, rbb|24

15 Kommentare

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  1. 15.

    War Briefwähler, schon seit 7 Tagen!
    Einfach mal versuchen zu verstehen, wenn ich einen subjektiven Eindruck schildere...sie können rechtsgesichert einen anderen haben.
    Gern geschehen.

  2. 14.

    Darum der präventive Zusatz m.M.n....
    Was Sie denken, bleibt Ihnen überlassen., aber lesen UND verstehen, erhöht die Resonanz des Kommentars.
    Gestern abend waren im ÖRR paar Fischköppe, welche ähnliche Argumente ausgetauscht haben.
    Wer ist nun der Meckersack?

  3. 12.

    Es ist so viel einfacher, immer nur zu meckern und alles schlecht zu finden, als mal aktiv darüber nachzudenken, in was für einem fantastischen Land wir (trotz unzweifelhaft bestehender Probleme) wir leben!
    Es lohnt sich -und dafür bin auch ich 1989 auf die Straße gegangen- wählen zu gehen.
    Was man wählt, ist jedem selbst überlassen, das nennt man Demokratie.
    Wählen gehen!

  4. 11.

    Sie, von der ewigen Meckerfront, gehen fälschlicherweise davon aus, dass sich die Mehrheit der Menschen so fühlt wie Sie.

  5. 10.

    Warum sollte jemand Briefwahlunterlagen anfordern - entweder per QC Code oder durch das Abschicken des unterschirebenen Formulars - und dann nicht wählen? Das ist doch Blödsinn. Die Unterlagen zur Wahl in die Tonne kloppen: ja. das kann ich mir vorstellen. Aber nicht die etxra angeforderten Briefwahlunterlagen, die man dann nach Hause zugeschickt bekommt. Ich wiederhole: fast eine Million Berliner:innen haben die Briefwahl beantragt. Diese Menschen werden wählen, und dann kommen die noch dazu, die am Wahltag in den Wahlkabinen ihr Kreuzchen machen. Wie kann man da behaupten, dass die Wahlbeteiligung niedrig ausfallen wird? An welchen Fakten wird das festgemacht?

  6. 9.

    m.M.n. ist die Verbitterung und gefühlte Alternativlosigkeit der Wähler "
    Ich verstehs nicht:
    Wer so gar keine Unterschiede zwischen den Grünen und den Linken, den Sozialdemokraten und der fdp erkennen will, wer nicht die afd-Sperenzchen durchschaut und die cducsu-Bräsigkeit nicht sieht, also der sollte den Fehler evtl. bei sich suchen.
    Aber dat is nur meine Meinung.

  7. 8.

    Da stimme ich Ihnen zu,
    m.M.n. ist die Verbitterung und gefühlte Alternativlosigkeit der Wähler stärker zu spüren als je zuvor.

  8. 7.

    „vernünftiges Programm“ - Na ja, wer bestimmt denn, was vernünftig ist? Z.B. bei Wasserverknappung: der Spargelbauer oder der 3x pro Tag duschende Teenager? Da es keine 100% ige Übereinstimmung geben kann, sollte man trotzdem wählen, und wenn es nach dem eigenem Geldbeutel ist...Dann belohnt man automatisch die schaffende statt die umverteilende Seite, meistens jedenfalls.

  9. 6.

    Eine so hohe Wahlbeteiligung wäre für uns Konservative ein Grund für Pessimismus.
    Denn Berlin wählt schon lange vornehmlich links.
    Wenn also diesmal Leute in die Wahlkabinen gehen, die es bei Bundestagswahlen sonst eher unterlassen, kann man sich das Ergebnis in dieser Stadt schon halbwegs ausrechnen...

  10. 5.

    Ganz einfach. Indem einige eben diese Briefwahlzettel in ihren „Rundordner“ zu Hause ablegen. Ist ja auch irgendwie ne Wahl.

  11. 4.

    In Berlin haben fast eine Million Menschen Briefwahl beantragt. Darüber hat der RBB berichtet. Allein diese Menschen werden - da sie sich die Mühe gemacht haben, die Briefwahl anzufordern - abstimmen. Wie passt das mit ihrer These zusammen, dass die Wahlbeteiligung niedrig sein wird?

  12. 3.

    Es gibt reichlich alte und neue kleine Parteien mit exakten Vorstellungen.
    Man kann auf der Seite des Deutschen Bundestages und unter Abgeordnetenwatch.de nachlesen wie welche Politiker/innen zu welchen Themen abgestimmt haben.
    Und man kann nachvollziehen wer bei den Corona-Maßnahmen für was gestimmt hat hinsichtlich Einschränkungen der Grundrechte, Einschränkungen der Freiheitsrechte, Zustimmung oder Ablehnung hinsichtlich faktischer Berufsverbote.
    Wer macht Gesetze hinsichtlich indirekter Impfzwänge.
    Gerade dieses Jahr gibt es besonders viele Gründe zu wählen statt immer nur über Politik, Medien und Journalisten zu schimpfen.

  13. 2.

    Mag sein. Aber wer nicht wählen geht, hat keinen Grund, sich nach der Wahl über das Ergebnis zu beschweren.

  14. 1.

    Ich glaube eher, dass die Wahlbeteiligung so niedrig sein wird, wie nie zuvor. Das liegt daran, dass es keine Partei gibt, die ein vernünftiges Programm bringt, oder das deren Spitzenkandidat nichts taugt.

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