Verzögerungen bei Berlin-Wahl - Experten räumen Wahlanfechtung so gut wie keine Chancen ein
Zahlreiche Wählerinnen und Wähler haben in Berlin erst weit nach 18 Uhr ihre Stimme abgegeben - während die Prognose schon bekannt war. Die Wahl sei deshalb kaum anzufechten, sagen Experten. Der Bundeswahlleiter fordert detaillierte Aufklärung.
Nach zahlreichen Pannen am Wahlsonntag in Berlin steht die Frage im Raum, ob das Wahlergebnis angefochten werden könnte. Unter anderem Ulrich Deppendorf, ehemaliger Leiter des ARD-Hauptstadtstudios, stellte auf Twitter die Frage: "In Berlin stehen noch Menschen vor den Wahllokalen. Sie kennen nun die Prognosen aus den Social Media. Sie wählen also in Kenntnis der Zahlen. Ist das gerecht? Anfechtungsgrund?"
In der Hauptstadt warteten Menschen teils noch um 19:30 Uhr vor Wahllokalen um ihre Stimme abzugeben. In einigen Wahllokalen waren zwischenzeitlich die Stimmzettel ausgegangen.
Niemand darf sich nach 18 Uhr anstellen
Laut dem Dresdner Politikwissenschaftler Hans Vorländer kann es die Wahlentscheidung einzelner Menschen beeinflussen, wenn sie nach der Bekanntgabe erster Prognosen ihre
Stimme abgeben. "Das lässt sich aber nicht vermeiden. Es ist so geregelt, dass alle ihre Stimme abgeben dürfen, die bis 18:00 Uhr an einem Wahllokal eingetroffen sind", sagte der Forscher von der Technischen Universität Dresden der Deutschen Presse-Agentur. Die Wahlleitung müsse allerdings unbedingt sicherstellen, dass sich niemand um 18:05 Uhr anstelle.
Brettschneider: "Peinlich für Berlin"
Der Kommunikationsforscher Frank Brettschneider sagte dem rbb, dass es generell "jede Menge Wahlanfechtungsgründe" gebe, der Punkt aber keiner sei. Auch er betonte, es dürfte sich nur eben niemand um 18:05 Uhr in die Warteschlange stellen und sagen: "Das Ergebnis gefällt mir nicht, jetzt will ich auch noch wählen." Er halte eine Wahlanfechtung für sehr unwahrscheinlich. "Aber peinlich ist es natürlich für Berlin", so Brettschneider.
Der Berliner Staatsrechtler Christian Pestalozza sagte Berliner Zeitung: "Es könnte sein, dass jemand diesen Fakt als Anlass für eine Wahlprüfungsbeschwerde nimmt." Fraglich sei allerdings, ob die Sache erfolgreich wäre. Letztendlich müsste nachgewiesen werden, dass es durch die Prognose zu einer Beeinflussung gekommen sei. Dann müsste außerdem nachgewiesen werden, dass sich dadurch auch etwas in der Sitzverteilung ändern würde.
Bundeswahlleiter fordert "detaillierten Bericht" aus Berlin
Die Berliner Wahlleiterin, Petra Michaelis, geht nach eigener Aussage davon aus, dass die Wähler noch unbeeinflusst ihre Stimmen abgeben konnten und sich daraus keine Wahlfehler ergeben haben, sagte sie dem rbb. Warum in einigen Wahllokalen die Stimmzettel ausgegangen seien, könne sie sich auch nicht erklären. "Wir haben ausreichend Stimmzettel beschafft und ich bin davon ausgegangen, dass die auch verteilt werden", so Michaelis. In einigen Wahllokalen seien sie aber wohl trotzdem ausgegangen, "das müssen wir aufarbeiten".
Der Marathon und die Pandemie seien weitere Herausforderungen gewesen. Die Vielzahl der Ereignisse sei für die Abhaltung der Wahl nicht das günstigste gewesen, so Michaelis.
Der Bundeswahlleiter hat einen "detaillierten Bericht" von der Landeswahlleitung zu den Pannen in Berlin angefordert.
Behrendt: Schwerwiegend, wenn gar nicht gewählt werden konnte
Justizsenator Dirk Behrendt (Grüne) zufolge müssten die Pannen bei der Wahl näher untersucht werden. Er habe "Fragen an die Verantwortlichen in den Bezirken und an die Innenverwaltung". Behrendt sagte am Sonntagabend am Rande der Wahlparty seiner Partei: "Ich kann noch nicht einschätzen, welches Ausmaß das hatte."
Behrendt sprach von Berichten aus einzelnen Wahllokalen. Es komme immer mal vor, dass auch um 18:30 Uhr noch gewählt werde. "Schwerwiegender ist sicherlich, wenn es die falschen Wahlzettel gab, wenn gar nicht gewählt werden konnte." Das werde man sich im Detail in den nächsten Tagen angucken müssen, weil dann auch die Frage im Raum stehe, ob sich dies aufs Ergebnis ausgewirkt habe.
Giffey: Wahlsonntag darf nicht nochmal mit Marathon-Tag kombiniert werden
SPD-Spitzenkandidatin Franziska Giffey kritisierte ebenfalls den Wahlablauf in Berlin. Der sei "nicht optimal“ gelaufen, sagte sie am Sonntagabend dem rbb am Rande der SPD-Wahlparty. "Man muss das jetzt nachbearbeiten und auswerten, woran es gelegen hat." Sie selber habe "eine Stunde in der Schlange gestanden", so Giffey. Die ehemalige Neuköllner Bezirksbürgermeisterin kritisierte zudem die parallele Durchführung des Berlin Marathons. Die vielen Absperrungen in der Stadt habe die Nachlieferung von Stimmzetteln behindert. "Es darf nicht noch einmal ein Wahlsonntag mit einem Marathon-Tag kombiniert werden", so Giffey.
Auch Jarasch fordert Aufklärung
Nachforschungen forderte auch die Grünen-Spitzenkandidatin Bettina Jarasch. "Das muss
aufgeklärt werden, komplett", sagte sie der dpa am Sonntagabend. Es müsse sichergestellt sein, dass alle, die wählen wollten, ihre Stimme auch hätten abgeben können. Sie erwarte vom zuständigen Innensenator, dass er das einleite.
Der Berliner Regierende Bürgermeister Michael Müller (SPD) reagierte mit Unverständnis auf die Pannen. "Das ist inakzeptabel, dass Menschen nicht zeitgerecht ihre Stimme abgeben können." Der zeitgleich mit der Abstimmung durchgeführte Berlin Marathon könne dafür nicht verantwortlich gemacht werden, so Müller. Berlin habe Erfahrung mit Marathons an Wahltagen. "Da muss es möglich sein, aufgrund der Erfahrung einen reibungslosen Wahlablauf zu garantieren."
Sendung: Abendschau, 26.09.2021, 19:30 Uhr