"Ihre Wahl" zur Berlin-Wahl - Richtig oder falsch? - Die Spitzenkandidaten im Fakten-Check
Wohnen, Verkehr und Bildung - die Spitzenkandidatinnen und -kandidaten haben sich vor der Abgeordnetenhauswahl der Diskussion gestellt. Doch waren sie gut vorbereitet? Die strittigsten Aussagen vom Dienstagabend im Fakten-Check von rbb|24.
Aussage von Klaus Lederer (Linke): "Lichtenberg und Marzahn-Hellersdorf sind die Bezirke, in denen die meisten Wohnungen entstehen."
rbb|24: Jein.
Lederer betont diesen Punkt, weil dort die Linken die Bezirksbürgermeister:in stellen (wobei nur in Marzahn-Hellersdorf auch das Stadtentwicklungsressort von den Linken verwaltet wird, in Lichtenberg liegt es bei einem Stadtrat der SPD).
Allgemein: Laut dem IBB-Wohnungsmarktbericht 2020 [ibb.de - pdf] wurden 2019 in Berlin 18.999 Wohneinheiten fertiggestellt. 22.524 zusätzliche Wohneinheiten wurden demnach zum Bau genehmigt. Aber: Ende 2020 waren insgesamt 65.830 Wohnungen genehmigt, aber noch gar nicht gebaut.
Die meisten Wohnungen fertiggestellt wurden 2019 allerdings im Bezirk Mitte: 3.918 – hier stellen die Grünen den Bezirksbürgermeister. Danach folgt Treptow-Köpenick (SPD) mit 2.915, Pankow (Linke) mit 2,248 – und erst dann Lichtenberg, mit 2.236 Wohnungen.
Beim Neubau der sechs landeseigenen Wohnungsunternehmen aber führte Lichtenberg 2019 die Liste an: In Lichtenberg bauten Degewo, Howoge und Co. 1.167 Wohnungen, in Marzahn-Hellersdorf 990 und Treptow-Köpenick 876.
Neubauzahlen aus dem Jahr 2020 stehen unter dem Eindruck der Pandemie und sind nur wenig aussagekräftig.
Aussage von Kristin Brinker (AfD): "Wir haben immer gesagt, wir sind dagegen, dass Autofahrer gegen Radfahrer ausgespielt werden auf den Haupttrassen."
rbb|24: Das lässt reichlich Interpretationsraum.
Im Landeswahlprogramm schreibt die AfD [afd.berlin - pdf]: "Die ideologische Überdimensionierung von Radverkehrsanlagen zu Lasten des motorisierten Individualverkehrs lehnen wir ab." Und an anderer Stelle: "Statt mit Verkehrspolitik beschäftigt sich der Senat mit Schikanen für Autofahrer."
Es war auch der AfD-Abgeordnete Frank Scholtysek, der in Berlin gegen die während der Corona-Pandemie errichteten Pop-up-Radwege geklagt hatte, weil man sich wegen Staus nicht in gewohnter Weise durch das Stadtgebiet bewegen könne. Es sei "untragbar, dass Kraftfahrern durch politische Willkür die Nutzung von Straßen verwehrt wird", begründete er.
Während der Corona-Pandemie waren zunächst vorübergehend, später dauerhaft wegen des vergleichsweise geringeren Autoverkehrs in Berlin zahlreiche Pop-up-Radwege entstanden. Am Ende durften sie bleiben, weil Scholtysek im Februar seine Klage vor dem Berliner Verwaltungsgericht zurückzog, weil er keine Aussicht mehr auf einen Erfolg sah.
Auch überregional ist die AfD bislang nicht gerade als Fahrrad-freundliche Partei aufgefallen. Im Bundestagswahlprogramm [afd.de] betont die Partei zu diesem Themenbereich, dass der motorisierte Verkehr zu schützen sei und eine "ideologisch geleitete Verkehrspolitik" abgelehnt werde. Auch Straßenraum neu aufzuteilen, lehnt die AfD ab. Dafür möchte sie unter anderem mehr Fahrspuren und Parkplätze für Autos, die innerstädtischen Stau verkürzen.
Die Aussage stimmt gewiss aus Perspektive der Autofahrer, aus Sicht der Radfahrer ebenso gewiss nicht.
Aussage von Kai Wegner (CDU): "Herr Lederer, die Wohnungen, die Sie enteignen wollen, 240.000 Wohnungen, haben ein Durchschnittsmiete von 6,71 Euro. Das sind nicht die Preistreiber im Mietwohnungsmarkt."
rbb|24: Schwer zu sagen.
Als Spitzenkandidat der Linken unterstützt Klaus Lederer das Ziel der Volkisinitiative "Deutsche Wohnen Co. enteignen". Diese will die Berliner Wohnungsbestände von großen Immobilienkonzernen vergesellschaften. Betroffen wären alle privaten Wohnungsunternehmen mit mehr als 3.000 Wohnungen in der Hauptstadt, ausgenommen die Genossenschaften. Auch nach Angaben von Jenny Stupka von der Initiative handelt es sich um 240.000 Wohnungen [youtube.com] - von rund 1,5 Millionen Mietwohnungen in Berlin. Sie gehören mehr als einem Dutzend Immobilienunternehmen.
Wo genau die durchschnittliche Kaltmiete dieser Wohnungen liegt, ist auf die Schnelle schwer zu sagen. Einen ersten Hinweis dürften die Durchschnittsmieten der Deutsche Wohnen geben. Nach Angaben des Unternehmens liegt in Berlin die durchschnittliche Miete im Bestand der Deutsche Wohnen bei 7,11 Euro pro Quadratmeter [deutsche-wohnen.com] . Das liegt etwas über den von Kai Wegner genannten 6,71 Euro. Deutsche Wohnen hält im Großraum Berlin mehr als 110.000 Wohnungen, also fast die Hälfte der von einer möglichen Vergesellschaftung betroffenen Wohnungen. Hinzu kämen aber noch die Wohnungen von Unternehmen wie Vonovia, Akelius und anderen.
Die durchschnittliche Nettokaltmiete liegt laut Berliner Mietspiegel derzeit übrigens bei 6,79 Euro. Viel höher liegen dagegen die Angebotsmieten, also die Mietpreise, zu denen Wohnungen aktuell auf dem Wohnungsmarkt angeboten werden. Nach Angaben der Preisdatenbank empirica lag diese im 2. Quartal 2021 in Berlin bei durchschnittlich 10,49 Euro.
Aussage von Bettina Jarasch (Grüne): "Es waren SPD-Finanzsenatoren, die McKinsey [eine Wirtschaftsberatung - die Redaktion] vor Jahren zu Vivantes geschickt haben, um zu gucken, wo man einsparen kann. Wo kann man einsparen? Beim Personal. Und es war im Juni wieder der Finanzsenator, der Vivantes und Charité gesagt hat: Verhandelt, aber es gibt kein zusätzliches Geld."
rbb|24: Das ist korrekt – aber unterkomplex.
Die Spitzenkandidatin greift hier im Streit um die Lage an den landeseigenen Klinikkonzernen Charité und Vivantes direkt den bisherigen Koalitionspartner SPD an: Dieser tue zu wenig, so Jaraschs Vorwurf, um Pflegekräfte zu entlasten und outgesourcten Mitarbeitende in Tochterunternehmen der beiden Konzerne besser zu bezahlen.
Tatsächlich hat Berlin in den vergangenen Jahren mehrfach auf Wirtschaftsberatungsunternehmen wie McKinsey zurückgegriffen, vor allem bei der Sanierung von Vivantes. Das ergab unter anderem eine Anfrage der Piraten-Partei im Februar 2013 [pardok.parlament-berlin.de – pdf]. McKinsey sollte helfen, das defizitäre Unternehmen in die schwarzen Zahlen zu führen. Im Zuge der Sanierung wurden auch mehrere Tausend Jobs gestrichen.
Im Tarifstreit zwischen der Gewerkschaft Verdi und beiden Krankenhauskonzernen hatte SPD-Finanzsenator Matthias Kollatz nun in der Tat erklärt, das Land werde kein zusätzliches Geld für mehr Personal zuschießen. Allerdings, so Kollatz im rbb: "Das Land darf Betriebs- und Materialkosten nicht aus Landeshaushaltsmitteln stellen, das ist Wettbewerbsverzerrung und nicht zulässig." Kollatz spielt damit auf europarechtliche Vorgaben an. Tatsächlich investiere Berlin in die Sanierung oder Erweiterung der landeseigenen Kliniken, für Vivante sind laut Kollatz im Haushalt "Eigenkapitalerhöhungen von jeweils 100 Millionen in 2022 und 2023 vorgesehen". Mehr Geld für Personal aber könne nur auf anderen Wegen fließen, so Kollatz, etwa über höhere Fallpauschalen.
Die Klinikleitun von Vivantes wiederum hatte zur Angleichung der Bezahlung in ihren Tochtergesellschaften an das Niveau des TVöD erklärt, die Mehrkosten von 35 Millionen Euro im Jahr seien nicht zu erwirtschaften. Mehr Personal zur Entlastung der Pflegekräfte würde man derweil gerne einstellen, so Vivantes – doch der Arbeitsmarkt sei leergefegt.
Aussage von Sebastian Czaja (FDP): "Wenn Berlin schon das meiste Geld pro Kopf für die Schülerinnen und Schüler ausgibt, dass wir es schaffen, dass nicht mehr (…) die soziale Herkunft darüber entscheidet, welche Chancen ich in meinem Leben habe."
rbb|24: Das ist korrekt.
Berlin gibt (Stand: 2019) in der Tat mehr als andere Bundesländer pro Schüler und Schülerin aus: 11.300 Euro sind es in dem Jahr gewesen, an zweiter Stelle folgt Hamburg mit 10.600 Euro, die anderen Bundesländer liegen deutlich darunter, der Bundesdurchschnitt bei 8.200 Euro. Die Summe berechnet sich aus den Personalausgaben, dem laufenden Sachaufwand und Investitionsausgaben. [destatis.de - pdf]
Dabei hat Berlin tatsächlich die höchsten Personalausgaben (8.600 Euro), auch ohne die in der rbb-Wahlsendung viel diskutierte Verbeamtung von Lehrkräften. Die Berliner Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) hat sich gewundert und gefragt, wie das sein kann [gew-berlin.de], allerdings bereits vor zwei Jahren, mit Zahlen von 2016. Als Ursachen für die hohen Bildungsausgaben hatten sie gefunden: "Erstens einen wesentlich höheren Ganztagsanteil von 72 Prozent gegenüber knapp 50 Prozent im Bundesdurchschnitt im Grundschulbereich. Und zweitens einen merklich höheren Anteil 'teurerer' Vollzeitschüler*innen (das heißt ohne Ausbildungsvertrag) im Berufsschulsystem."
Zu den hohen Personalausgaben kommen die zweithöchsten Ausgaben beim laufenden Sachaufwand (2.100 Euro, Hamburg gibt 3.000 Euro aus). Lediglich bei den Investitionsausgaben liegt die Hauptstadt mit 600 Euro im Bundesdurchschnitt (Bayern gibt mit 1.200 Euro deutlich mehr aus als alle anderen Bundesländer). Insgesamt ist die Aussage, über alle Schultypen gerechnet, korrekt.
Aussage von Franziska Giffey (SPD): "Ich bin an kriminalitätsbelasteten Orten, an denen wir sehr viele Straftaten haben, dafür, dass mit Videoüberwachung gearbeitet wird."
rbb|24: Das steht so nicht im SPD-Wahlprogramm.
Giffey hat sich schon zu ihrer Zeit als Neuköllner Bezirksbürgermeisterin den Ruf der "Law-and-Order"-Politikerin erworben. In diesem Fall weicht sie allerdings vom Wahlprogramm ihrer Partei ab - wenn man zwischen den Zeilen liest.
Im Programm steht auf Seite 102 zu diesem Thema: "Videoüberwachung nutzen wir nur temporär und anlassbezogenen. Eine dauerhafte Video-Überwachung öffentlicher Plätze und den Einsatz von Gesichtserkennung lehnen wir ab." [spd.berlin]
Giffey grenzt allerdings ein: Sie spricht sich FÜR den Einsatz von Videoüberwachung an sogenannten "kriminalitätsbelasteten Orten" (kbO) aus. Diese Orte werden von der Polizei festgelegt und gelten dann, bis sie aufgehoben werden. Hier kann die Polizei etwa verdachtsunabhängige Kontrollen durchführen. Aktuell gibt es sieben solche Orte in Berlin [berlin.de], darunter den Alexanderplatz und das Kottbusser Tor.
Zwar muss die Polizei seit einer Gesetzesänderung jährlich dem Abgeordnetenhaus über die Einstufung der kbOs berichten. Doch in Verbindung mit der Videoüberwachung lässt Giffey durchblicken: An diesen Orten würde sie die Dauer des Einsatzes der Polizei überlassen. Schöneberg Nord und der Leopoldplatz galten zum Beispiel 16 respektive neun Jahre als "kriminalitätsbelastete Orte" [pardok.parlament-berlin.de - pdf]. Dort wäre eine Videoüberwachung also nicht "temporär" gewesen.