Interview | Wahlhelfer zu Pannen in Berlin - "Die Zweitstimmen waren hemdsärmelig auf einem A3-Zettel kopiert"
Stundenlanges Anstehen, fehlende Stimmzettel: Der Wahlsonntag in Berlin war auch von zahlreichen Pannen geprägt. Für Frust sorgte das nicht nur bei den Wählenden. Ein Wahlhelfer berichtet von fehlender Kommunikation und verlorenen Stimmen.
rbb|24: Wie sind Sie zu dem Job als Wahlhelfer gekommen?
Justus Conrad*: Ich habe mich freiwillig gemeldet und auch die Bereitschaft erklärt, als Wahlvorstand tätig zu sein, weil ich beruflich mit der Materie zu tun habe und mir das deshalb zutraute. Im Nachhinein hat sich ja auch herausgestellt, dass das sinnvoll war.
Wie ist der Tag angelaufen?
Das Bezirkswahlamt hat uns im Vorfeld viele Unterlagen zur Verfügung gestellt und es gab auch eine gute Schulung im Vorfeld. Bis Sonntag hatte ich gar keinen Zweifel, dass das vernünftig laufen wird, weil sich die Mitarbeiter im Bezirksamt wirklich viel Mühe gegeben haben. Das möchte ich auch nochmal unterstreichen.
Umso überraschter war ich, dass es dann am Wahltag so schief gelaufen ist. Es ist so, dass man gegen 7:00 Uhr anfangen muss, das Wahllokal aufzubauen, was in der Regel aber nicht reicht. In unserem Fall war es - und dafür kann das Bezirksamt oder die Landeswahlleiterin wahrscheinlich nichts - wirklich chaotisch. Wir waren in einer Grundschule und mussten erstmal Spielsachen wie Bauklötze oder auch persönliche Dinge beiseite räumen. Wir kamen da morgens an und dachten, wir müssen einen halben Umzug machen. Der Hausmeister der Schule hat uns eigentlich nur kurz aufgeschlossen - und war dann gleich wieder weg. Ich habe mir das Wahllokal vorher angesehen, aber bei laufendem Betrieb.
Wie ging es dann ab 8:00 Uhr weiter?
Wir haben es geschafft, bis zum Start der Wahl alles einzurichten - haben dann aber sehr früh gemerkt, dass es räumlich eng wird. In der Schule waren mehrere Wahllokale untergebracht und wir waren auf eher kleinere Räume angewiesen, so dass wir nur zwei Wahlkabinen aufstellen konnten.
Das hat gleich zu Beginn ab 8:00 Uhr zu einer Schlangenbildung geführt. Wir dachten noch, das würde irgendwann abebben, weil das halt die Frühwähler seien. Aber es wurde nicht weniger. Es war eigentlich den gesamten Tag eine permanente Schlange.
Wann begannen die Probleme mit den Stimmzetteln?
Die begannen dann mittags. Wir haben gemerkt, dass die Wahlbeteiligung in unserem Wahlbezirk sehr hoch sein wird, obwohl wir sehr viele Briefwähler hatten. Eines der drei Wahllokale in der Schule äußerte Bedenken, dass die Wahlzettel nicht reichen könnten. Um ca. 14:30 Uhr war klar, dass die Zettel für die Bundestagswahl nicht reichen. Daraufhin haben wir beim Bezirkswahlamt Zettel nachgeordert. Die kamen dann auch rechtzeitig.
Problematisch waren die anderen Zettel für die Berlin-Wahlen. Am Nachmittag haben alle drei Wahlbüros in unserer Schule gemerkt, dass wir komplett leerlaufen. Daraufhin haben wir mehrfach, auch von verschiedenen Leitungen aus, im Bezirksamt angerufen. Es kam die Zusage, man kümmere sich, aber die Schlangen wurden gleichzeitig immer länger. Wir haben dann in den drei Wahlbüros untereinander die Wahlzettel getauscht, so dass alle ordnungsgemäße Pakete zusammenbekommen haben. Gegen 17:00 Uhr war klar, dass es nicht reichen wird.
Was passierte dann?
Es kam eine Nachlieferung, die war auch ziemlich groß - aber es fehlten die Erststimmen zum Abgeordnetenhaus. Die waren einfach nicht dabei. Die Zweitstimmen zum Abgeordnetenhaus waren ziemlich hemdsärmelig auf einem A3-Zettel kopiert. Wir mussten die Wähler dann aufklären, dass auch diese Zettel offizielle Wahlscheine seien - auch wenn die so aussahen, als ob sie ein Schulkind kopiert hätte.
Aber die Erststimmen zum Abgeordnetenhaus wurden zu einem handfesten Problem. Wir haben um 18:00 Uhr den Zugang geschlossen und die schon Anwesenden darauf hingewiesen, dass sie noch ihr Wahlrecht ausüben können - wir wüssten nur nicht, wann.
Wie ging es dann um 18:00 Uhr weiter?
Die Kommunikation mit dem Bezirksamt war mittlerweile stark eingeschränkt. Wir haben mehrfach angerufen und gesagt, dass wir jetzt wirklich die Zettel brauchen, sonst könnten wir nicht schließen. Das Bezirksamt hat dann gesagt, dass noch Zettel kommen würden - aber sie konnten uns nicht sagen, wann. Und so mussten wir das natürlich an die verbliebenen Wahlberechtigten kommunizieren.
Um 18:45 Uhr konnten wir unser Wahllokal schließen, nachdem die letzten beiden auf ihre Erststimmen zum Abgeordnetenhaus verzichten haben. Das haben wir ausdrücklich nicht angeboten. Ich habe mehrfach darauf hingewiesen, dass sie hier so lange stehen bleiben könnten, bis diese Zettel kommen - und dass wir uns eigentlich nicht wohl dabei fühlen, wenn sie auf ihre Stimme verzichten. Aber die Leute standen da anderthalb Stunden und haben sich dann gesagt 'Ich lass jetzt die Erststimme weg, wähle den Rest und dann ist gut'. Ein anderes Wahllokal in unserer Schule konnte erst um 19:30 Uhr schließen.
Hinzu kommt auch eine nicht zu benennende Zahl von Wählern, die schlicht schon vorher gegangen sind. Die haben da über eine Stunde gestanden und sich dann gesagt 'Das ist mir hier zu blöd jetzt, ich muss mein Kind abholen' oder sonst irgendwas. Wir können die ja auch nicht zwingen, dort stehen zu bleiben. Das hat also mit Sicherheit Auswirkungen auf die Wahlbeteiligung gehabt, ohne dass man die Zahl seriös benennen kann.
Eigentlich sollte es ja möglich sein, in jedes Wahlbüro ausreichend Zettel zu liefern, so dass theoretisch eine 100-prozentige Wahlbeteiligung gestemmt werden kann. Wurden Sie auf diese Situation vorbereitet, dass gegebenenfalls Zettel nachgeordert werden müssen?
Ich bin natürlich auch davon ausgegangen, dass es genug Zettel sind. Man muss dazu sagen: Das sind morgens sehr große Pakete - die zählt man natürlich nicht nach. Wir haben am Anfang auch gar keine Zweifel gehabt, dass die reichen. Hinzu kommt, dass es in unserem Bezirk eine sehr große Briefwahlbeteiligung gab. Von unseren knapp 1.000 Wahlberechtigten mussten wir ja eh nur rund 550 versorgen - wenn alle gekommen wären und abgesehen von wenigen Ausnahmen, die trotz beantragter Briefwahlunterlagen vor Ort wählen.
In den Schulungen wurden wir nicht konkret auf diesen Fall vorbereitet - es wurde nur gesagt, dass wir sofort anrufen sollen, wenn Probleme auftreten sollten. Das wäre ja im Normalfall auch kein Problem gewesen. Aber diese Kommunikationsschiene, die hat nicht funktioniert. Die Kommunikation war nebulös und wir wussten oft nicht, woran wir sind. Wir haben jedenfalls rechtzeitig Alarm geschlagen.
Wurde Ihnen erklärt, warum die Zettel nicht kamen?
Nein. Das wäre mir auch egal gewesen, wer die bringt und wo die herkommen. Mit dem Berlin-Marathon kann es in unserem Fall nichts zu tun haben. Unser Wahllokal lag fernab der Laufstrecke und die Probleme traten ja erst am Nachmittag auf.
Wie war die Stimmung unter den Wählenden?
Es war eher ein gegenseitiges Mitleid. Wir haben natürlich deutlich gemacht, dass es uns leid tut, dass sie so lange warten müssen. Wir haben auch viel Zuspruch und Dank erfahren, dass wir diese Aufgabe wahrnehmen. Selbst bei einer normalen Wahl, bei der alles glatt läuft, ist es ja ein anstrengender Job. Aber natürlich war ganz klar, dass die Leute genervt waren und sich ja auch besseres vorstellen konnten, als bei dem schönen Wetter auf einem Schulhof rumzustehen.
Was passierte nach der Schließung des Wahllokals?
Wir konnten erst um 19:00 Uhr mit der Auszählung anfangen. Diese muss in einer bestimmten Reihenfolge stattfinden, angefangen mit der Bundestagswahl. Wenn man fertig ist, gibt man die Ergebnisse telefonisch durch - erst dann darf man mit der nächsten Auszählung beginnen. Ab 20:30 Uhr war es aber extrem schwierig, für diese sogenannte Schnellmeldungen jemanden zu erreichen. Mal ging niemand ran, mal gab es eine Fehlermeldung, dass diese Nummer nicht belegt sei. Über zwei Stunden war gar keine Kommunikation möglich. Das hat natürlich diesen anstrengenden Tag für uns nochmals verlängert. Der Wahl-Tag endete dann für mich gegen 1:00 Uhr am Montag früh - nach 18 Stunden.
Wer hat aus Ihrer Sicht die Schuld an der Misere?
Es ist aus meiner Sicht ein Organisationsverschulden seitens der Landeswahlleitung und dessen Unterbau. Auf welcher Ebene, kann ich nicht sagen, da ich die Aufgabenteilung zwischen Landeswahlleitung und Bezirkswahlamt nicht im Detail kenne. Das Problem lag aber nicht an einzelnen Leuten. Das wäre unfair, dass den Mitarbeitern in die Schuhe zu schieben.
Die Schulungen vorab waren sehr umfangreich und gut. Da kann man nicht mehr machen. Die Aussage der Landeswahlleiterin, dass die Wahlhelfer mit der Angelegenheit vielleicht nicht so vertraut gewesen wären [zeit.de], empfinde ich einfach als eine Unverschämtheit.
Vielen Dank für das Gespräch.
*Name durch die Redaktion geändert. Hintergrund ist, dass Wahlhelfer und -helferinnen laut Bundeswahlgesetz grundsätzlich zu Verschwiegenheit verpflichtet sind, über die ihnen bei ihrer Tätigkeit bekannt gewordenen Angelegenheiten.
Das Interview führte Micha Bärsch, rbb|24.
Sendung: Abendschau, 27.09.21, 19:30 Uhr